Weniger Staat? Weniger Freisinn!

Als der einst staatstragende Freisinn Ende der siebziger Jahre im Zuge der aufkommenden neoliberalen Revolution den dümmlichen Wahlkampfslogan «Weniger Staat, mehr Freiheit» prägte, konnte er sich diesen Widersinn noch locker leisten. Sein Wähler:innenanteil bewegte sich mit um die 26 Prozent auf dem SVP-Niveau von heute. Damals war die Parteienlandschaft übersichtlich: CVP, SP und FDP prägten die Schweizer Politik. Die SVP war als Juniorpartnerin im Militärdepartement geduldet. 

Paradoxerweise setzte der schleichende Niedergang des Freisinns ein, als sich nach dem Mauerfall in der Schweiz die neoliberalen Dogmen in Politik und Wirtschaft allmählich durchsetzten. Die FDP entledigte sich der Umweltliberalen. Ähnliches liess sich übrigens auch bei der CVP feststellen, sie drängte die Christlichsozialen ab in die Bedeutungslosigkeit, integrierte den neoliberalen Mainstream und erodierte als politische Kraft noch schneller als der bürgerliche Partner. 

Nach diesem Wahlwochenende ist der einst unbestrittene politische Leader Freisinn nach der Mandatszahl bloss noch viertstärkste Kraft im Land. Seine neoliberale Ideologie ist vollends aus der Zeit gefallen. Global erlebt der starke Staat ein erfolgreiches Revival als Antwort auf die multiplen Krisen. Wobei es ohnehin eine Binse ist: Komplexe moderne Gesellschaften und Ökonomien funktionieren ohne kollektive Zusammenarbeit nicht. Der Freisinn erweist sich mit seiner erratischen Ideologie als komplett krisenuntauglich, das konnte die Öffentlichkeit bereits beim Grounding der Swissair feststellen, erst recht während der Finanzkrise und jüngst beim Zusammenbruch der CS. 

Der zerrüttete mentale Zustand der Partei manifestiert sich unmittelbar nach der Wahl nun bei den zweiten Wahlgängen für den Ständerat. In Zürich und in Solothurn ziehen sich Freisinnige zugunsten ihrer einst rechtskonservativen Intimfeindin SVP zurück, von der sie vor nicht allzu langer Zeit als «weichsinnig» verunglimpft worden war. Regine Sauter überlässt in Zürich das Feld Gregor Rutz, in Solothurn räumt Remo Ankli das Feld dem SVP-Leichtgewicht Christian Imark, in Schaffhausen zwingen die FDP-Oberen die junge Nina Schärrer zum Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur – zugunsten des parteilosen Trybol-Nationalisten Thomas Minder. 

Bereits bei der Ersatzwahl für Paul Rechsteiner im Kanton St. Gallen lief es nach demselben Fahrplan ab, die FDP-Kandidatin strich die Segel zugunsten der SVP. Devise: Lieber eine:n wie auch immer gepolte:n Bürgerliche:n als eine linke Standesvertretung. Wobei in Zürich die Grünliberale Tiana Angelina Moser von den Freisinnigen kurzerhand zur Linken erklärt wurde. Ein Freisinn kurz vor dem Nervenzusammenbruch, der sich der SVP unterordnet – eine hochinteressante politische Konstellation. Zerfällt der Freisinn allmählich und löst sich in einigen Jahren in der SVP auf? Einen Freisinn in diesem Zustand braucht die Schweiz jedenfalls nicht.