«Journalistischer Wurstsalat» auf Radio SRF

«Journalistischer Wurstsalat» – so nennt der Historiker Venanz Nobel auf Facebook einen Beitrag, den Radio SRF vergangenen Montag ausstrahlte. Es geht darin um einen offenen Brief, den Jenische und Vertreter:innen von jenischen Organisationen zuhanden der Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verfasst haben – auch Nobel gehört zu den Unterzeichnenden.

Die Verfasser:innen fordern «namens der Gemeinschaft der Jenischen und Sinti in der Schweiz […] die politische Anerkennung der Familienzerreissungen durch die Aktion ‹Kinder der Landstrasse› der Stiftung Pro Juventute als kulturellen Völkermord». Das 1926 gegründete sogenannte «Hilfswerk» «Kinder der Landstrasse», welches bis 1973 aktiv war, nahm Kinder von Jenischen und Sinti ihren Familien weg, mit dem Ziel, deren Kultur auszulöschen.* Seit Jahrzehnten berichten Betroffene über das Leid, das diese Stiftung über sie und ihre Familien gebracht hat, und sind mit Forderungen an den Bundesrat in der Öffentlichkeit präsent. Es gibt wissenschaftliche Arbeiten, mehrere Bücher sowie eine grosse Anzahl Berichte in den unterschiedlichsten Schweizer Medien – auch SRF hat immer wieder gute Arbeit geleistet.

Doch all das scheint an den Sendungsmacher:innen vorbeigegangen zu sein. So kommentiert denn auch Nobel zu Recht auf Facebook weiter: «Mit wenig Empathie und noch weniger Recherche verwursten die Macherinnen der SRF News Jenische, Sinti, Roma und Fahrende.» Tatsächlich übernehmen die Sendungsmachenden den Begriff «Fahrende» unkommentiert – obwohl er irreführend ist, waren doch viele Jenische und Sinti, denen die Kinder weggenommen wurden, sesshaft. Hinzu kommt, dass in der Sendung fälschlicherweise stets von Roma statt von Jenischen gesprochen wird. Dieser grobfahrlässige Fehler ist aus mehreren Gründen ärgerlich:

• Der Bericht gibt falsche Informationen weiter, die die SRF-Hörer:innen als richtig annehmen.

• Der Bericht untergräbt weiter das bereits angeschlagene Vertrauen der Jenischen in die Medien.

• Der Bericht beraubt die Jenischen einmal mehr ihrer Identität und macht sie unsichtbar, indem sie nicht korrekt bei ihrem Namen genannt werden.

• Und schliesslich zeigt der Bericht eine gewisse Ignoranz, die auf der SRF-Redaktion gegenüber diesem Thema zu bestehen scheint.

Zu Recht fordern Jenische seit langem, dass ihre Geschichte obligatorischer Schulstoff sein sollte. Das wird wohl in absehbarer Zeit nicht passieren. Zu hoffen bleibt jedoch, dass Bundesrätin Baume-Schneider bald auf den offenen Brief reagieren wird. Und dass der Bundesrat das, was «Kinder der Landstrasse» den Jenischen und Sinti angetan hat, als das anerkennt, als was es die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus letztes Jahr in einem «Beobachter»-Interview bezeichnet hat: als Völkermord.

* Korrigenda vom 27. Januar 2024: In der alten Version war fälschlicherweise von der Stiftung «Kinder der Landstrasse» die Rede. Richtig ist, dass das sogenannte «Hilfswerk» «Kinder der Landstrasse» 1926 durch die Stiftung Pro Juventute gegründet wurde.

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Kommentare

Kommentar von guildo

Sa., 27.01.2024 - 03:18

Was viele nicht wissen (wollen): Im sogenannten «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» war bis am Schluss 1973 immer ein Bundesrat im Vorstand. Der Völkermord wurde also bis am Ende ganz offiziell im Namen des Staates Schweiz durchgeführt.