Am Anfang ist es ungewohnt
Ein junger Mann kommt in einer fremden Stadt an und sucht Anschluss. Wohin geht er? Er darf noch nicht in die Schule, nicht zur Arbeit, und einen Tag im Café kann er sich nicht leisten. Also sitzt er bei schönem Wetter vielleicht an den See oder wenns regnet vielleicht auf eine Bank im Bahnhof, wo rundherum alles in Bewegung ist. Dann hat sein Kollege von kostenlosen, offenen Deutschkursen gehört. Fortan gehen sie fast jeden Tag hin. Die Lehrerin unterrichtet Deutsch in ihrer Freizeit, die beiden Männer wissen eigentlich nicht, warum. Aber sie mögen die Lehrerin, und sie spüren, dass sie sie auch mag. Das ist genug. Das ist viel.
Ein aufgeladenes Wort, das wir beim Solinetz besonders gerne verwenden, heisst «Begegnungen». Geflüchtete, die tendenziell isoliert leben müssen, sollen Leute kennenlernen können, die von Flucht nur in der Zeitung lesen und trotzdem spüren, dass sie dies etwas angeht. Irgendwie fehlen ihnen die Menschen, über deren Schicksale geschrieben wird, in den Berichten, wie Risse im Blatt, die die wichtigsten Wörter unlesbar machen. Sie möchten Verantwortung übernehmen, indem sie sich auf die einzelnen Menschen, die kommen, einlassen.
Die Kontakte, die dann entstehen, berühren mich nicht zuletzt auch deshalb, weil sie so wunderbar schräg sind. Der 25-jährige Afghane, ehemals Hirte, und die 70-jährige Zürcherin, ehemals Köchin, sind eigentlich nicht gerade prädestiniert für viele gemeinsame Interessen. Aber heute gehen sie zusammen in den botanischen Garten. Ein künstliches Setting, denn er kann eigentlich nichts mit Pflanzen anfangen, und sie, die den Ort ausgewählt hat, wenn sie ehrlich ist, auch nicht. Und warum fand es statt? Weil sie politisch interessiert ist und als Frau gelernt hat, sich um andere zu kümmern, und weil er dahin gegangen ist, wo er offene Türen und Solidarität fand.
Es werden doppelt so viele Asylgesuche von Männern wie von Frauen eingereicht, bei den Freiwilligen sind es deutlich mehr Frauen als Männer. Manchmal werde ich wütend auf die Männer, die sich nicht engagieren, weil ich mir einbilde, gerade sie könnten irgendwie natürlichere, spontanere Verbindungen aufbauen, so von Mann zu Mann. Aber das stimmt nicht. Jenseits von Sympathie, die zwei Menschen innerhalb von Sekunden ganz nahe zueinander bringen kann, ist es immer Arbeit, zusammenzufinden. Am Anfang ist es ungewohnt.
Ich glaube, meinem gelegentlichen Hadern mit der «Unnatürlichkeit» der Beziehungskonstellationen liegt der tiefe Wunsch zugrunde, dass es unseren Verein nicht bräuchte und alle Asylsuchenden zum Tee eingeladen würden statt zur Asylanhörung. Im italienischen Ort Riace brauchte es auch kein Solinetz. Da konnten sich zum Beispiel zwei Männer finden, die gerne Hauswände bemalen und zusammen Hauswände bemalen. Riace war ein grosses Solinetz.
Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.
Kommentare
Kommentar von yogioko
Di., 21.05.2024 - 09:49
Das hat mich sehr gerührt. Meine Mutter ist so eine freiwillige Deutschlehrerin im Kanton Aargau. Ich glaube nicht, dass sie sich vor ein paar Jahren als links bezeichnet hätte und bin mir nicht ganz sicher, ob sie es jetzt tut. Gekümmert hat sie sich schon immer. Im Deutschkurs hat sie Erika kennengelernt, eine Menschenrechtsanwältin aus Kolumbien die flüchten mussten, weil sie sich mit dem Staat anlegte. Erika und ihre Tochter wurden zum Teil der Familie, zogen soweit bei meinen Eltern ein, wie sie aufgrund der kantonalen Auflagen durften. Doch obwohl Erikas Gomez Ardilas Fall umfassend dokumentiert und ihre Verfolgung sehr gut belegt ist, wird ihr Asylgesuch auf jeder Ebene abgelehnt. Der Kolumbianische Staat sei in der Lage und willig, sie - vor sich selbst - zu schützen. Letzten Montag Nachmittag kam die Meldung der Migrationsbehörde: Am Mittwoch werden sie ausgeschafft. Keine 48h Zeit für Mutter und Kind, sich zu verabschieden. Die Schulgspändli der Tochter schrieben ihr zum Abschied Grusskarten: "viel Spass in Kolumbien!". Sie fehlen uns so sehr.