Pestizide ohne Kontrolle?
2021 stimmte die Schweiz über zwei Initiativen ab, die den Gebrauch von Pestiziden einschränken wollten. Der Abstimmungskampf war heftig. Um den Initiativen den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschloss das Parlament drei Monate vor der Abstimmung Massnahmen, um die Risiken des Pestizidgebrauchs zu reduzieren. Dazu gehörte ein zentrales Informationssystem über die Verwendung von Pestiziden und Nährstoffen.
Inzwischen hat der Bund dafür ein digitales Tool entwickelt: Digiflux. Nicht nur die Landwirtschaft, auch andere kommerzielle Anwender:innen wie Gartenbaufirmen sollen es benützen. Doch SVP-Kreise laufen Sturm dagegen. Eine Motion des Freiburger Nationalrats Nicolas Kolly, die Landwirtschaft solle von Digiflux ausgenommen werden, fand im Herbst eine Mehrheit in der grossen Kammer, obwohl der Bundesrat sie ablehnt und betont, es würde «gegen Treu und Glauben verstossen, die Beschlüsse des Parlaments nach der Abstimmung wieder rückgängig zu machen». Der Ständerat beschloss dann Anfang März, an Digiflux festzuhalten – mit Vereinfachungen für die Anwender:innen.
Doch die Gegner:innen geben nicht auf. Der Verein nichtszumelden.ch ruft offen zum Digiflux-Boykott auf. Der Kanton St. Gallen hat bereits im November eine Standesinitiative gegen Digiflux überwiesen, nun kommt eine aus Bern, dem grössten Agrarkanton, dazu. Die Landwirtschaft sei dazu da, um zu produzieren, nicht um Excel-Tabellen auszufüllen, sagte der EDU-Grossrat Dominik Blatti während der Debatte – und überzeugte das Kantonsparlament.
Das heraufbeschworene Bild vom Bauern, der lieber mit der Mistgabel als mit der Tastatur hantiert, täuscht. Viele Digiflux-Verweiger:innen sind sogenannte Lohnunternehmer:innen, die im Auftrag von Landwirt:innen mit den modernsten Maschinen Felder bestellen. Displays, Melk- und Fütterungsroboter, GPS, Apps und ja, auch Excel-Tabellen sind in diesen Kreisen Alltag.
Im 20. Jahrhundert haben Politik und Industrie die Bäuer:innen jahrzehntelang auf hohe Dünger- und Pestizidgaben getrimmt. Kein Wunder, sind viele heute abhängig davon. Diesen Weg zu verlassen, ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft – essen wollen schliesslich alle. Die Landwirtschaft braucht Unterstützung, um den Kurs zu ändern, aber auch klare Regeln.
So berechtigt der Frust vieler Landwirt:innen über hohe Arbeitslast und tiefe Preise ist – sie legitimiert keinen unsorgfältigen Umgang mit gefährlichen Chemikalien. Die (auch vom Bauernverband) geforderte «administrative Vereinfachung» droht auf eine riskante Deregulierung hinauszulaufen, die dazu führt, dass niemand weiss, wo welche Gifte ausgebracht werden. Das verdient keine Unterstützung.