Der doppelte Staat
Hast du deine Altersrente wie gewohnt erhalten? Bist du nach deiner Auslandreise mühelos über die Grenze gekommen? Gab es Probleme bei der Fahrausweiserneuerung? So und ähnlich beginnen nun viele Gespräche in meinem Bekanntenkreis, der vorwiegend aus gestandenen weissen US-Bürger:innen besteht. Ihre Ängste rund um alltägliche Behördengänge sind vielleicht übertrieben, aber sie sind nicht irrational. So lebt man in einem doppelten Staat, in dem das Recht nicht mehr unbedingt Geltung hat.
Einen solchen «Dual State» (Doppelstaat) hat der deutsch-jüdische Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel 1940 im US-amerikanischen Exil beschrieben. Sein «Beitrag zur Theorie der Diktatur» besagte: Nazideutschland sei einerseits ein Normenstaat, dessen Handeln sich an bestehenden Gesetzen orientiere, andererseits ein Massnahmestaat, der sich an politischer Zweckmässigkeit ausrichte. Auf Deutsch wurde «Der Doppelstaat» erst Ende 1974, während meines eigenen Politologiestudiums, publiziert. Jetzt erfahre ich im Anschauungsunterricht, wie etabliertes Recht und willkürliche Rechtlosigkeit gleichzeitig existieren und ausserdem unentwirrbar verflochten sein können.
Die USA von 2025 sind politisch, wirtschaftlich und kulturell ein anderer Doppelstaat als Nazideutschland vor fast hundert Jahren. Oder als Russland, China, Ungarn, Israel heute. Doch für alle autokratischen Regime gilt: Normen- und Massnahmestaat sind nicht gleichwertig und laufen auch nicht parallel. Der Massnahmestaat dominiert und beschränkt den Normenstaat nach Belieben auf «unpolitische» Verwaltungsbereiche wie den Strassenverkehr oder die Sicherung von Eigentumsverhältnissen. Zusätzlich spielen die bestehenden Gesetze und Vorschriften für die Willkürjustiz auch die Rolle des nützlichen Idioten. So wie kürzlich in Vermont, wo die Grenzpolizei ICE ein planmässiges Einbürgerungsinterview nutzte, um den Palästina-Aktivisten Mohsen Mahdawi in Handschellen abzuführen (vgl. «Die langen Schatten»).
Trotz seiner ichsüchtigen Eskapaden ist Präsident Trump ein Massnahmestaatsmann wie aus dem Lehrbuch. Er regiert statt in Zusammenarbeit mit der Legislative mit exekutiven Dekreten. Er begnadigt seine Anhänger:innen, auch die gewalttätigen, und bedroht seine Kritiker:innen. Er entzieht wichtige Bereiche der USA der regulären Rechtsprechung. Im Namen der nationalen Sicherheit werden rechtswidrige Verhaftungen und Deportationen durchgeführt. Er spricht den Teilen der Bevölkerung, die er eigenmächtig als Kriminelle abstempelt, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren ab. Er will den Habeas Corpus, den in der US-Verfassung garantierten Schutz vor willkürlichem Freiheitsentzug, abschaffen – weil die USA von einer Invasion bedroht seien. Er sagt es laut und deutlich: «Wer sein Land rettet, verstösst nicht gegen das Gesetz.»
Das Abgleiten vom demokratischen Rechtsstaat in den autokratischen Doppelstaat ist ein Prozess – und in den USA kein Fait accompli. Noch verzeichnet der Normenstaat kleine Siege. Einzelne rechtswidrig Verhaftete kamen frei. Zahlreiche Entlassungen von Staatsbeamten und Streichungen von Forschungsgeldern sind – vorläufig – blockiert. Rund 200 Rechtsklagen gegen Trump sind seit Januar eingereicht worden. Der Ton der juristischen Auseinandersetzung wird schärfer. Zurzeit diskutiert der Supreme Court, ob ein Präsident im Alleingang das in der US-Verfassung garantierte Bürgerrecht für alle in den USA geborenen Kinder (Jus soli) abschaffen kann. Dieses Urteil und weitere Duelle zwischen dem Obersten Gericht und der aktuellen Regierung werden die Zukunft des Doppelstaates USA allerdings nicht entscheiden. Die Wiederherstellung eines funktionierenden Rechtsstaates muss auch von unten her, von der Mehrheit der Bevölkerung, gewollt und getragen werden.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.