Auch der Nationalrat will seine Ruhe haben
Nächste Runde in der Debatte um das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz. Bekanntlich hatte das Gericht am 9. April die Schweiz aufgrund einer Klage der Klimaseniorinnen gerügt, zu wenig für den Klimaschutz zu tun und damit Menschenrechte zu verletzen. Heute Morgen diskutierte der Nationalrat. Schon Tage zuvor hatten sich immer wieder einige Aktivist:innen auf den Bundesplatz gesetzt. Mit Schildern, auf denen etwa «Ich bin entsetzt» und «Fassungslos» stand, protestierten sie gegen die angekündigte Missachtung der Urteils. Von der Polizei wurden sie jeweils aufgefordert zusammenzupacken. Ebenfalls heute Morgen wurde eine Petition der Klägerinnen und von Greenpeace abgegeben, die in zwei Wochen zusammen über 22'000 Unterschriften gesammelt und damit das Parlament aufgefordert hatten, das Urteil zu respektieren und die Menschenrechtskonvention zu schützen.
In der Nationalratsdebatte wurde, wie bereits eine Woche zuvor im Ständerat, von bürgerlichen Politiker:innen allen Ernstes behauptet, die Schweiz tue schon genug für den Klimaschutz und habe es deshalb nicht verdient, verurteilt zu werden. Am Ende stimmte der Rat mit 111 zu 72 Stimmen einer Erklärung zu, in der unter anderem steht, das Strassburger Gericht habe «die Grenzen der dynamischen Rechtsauslegung überstrapaziert» und nehme damit in Kauf, dass seine Legitimität «in Frage gestellt wird».
Dass sich ein internationales Gericht zur Schweizer Klimapolitik äussert, erachten die Bürgerlichen als Anmassung. So sei das nicht vorgesehen gewesen mit diesem Gericht und den Menschenrechten. Und auch wenn etwa Uno-Generalsekretär António Guterres gerade vor wenigen Tagen wieder warnte, die Welt befinde sich auf dem Weg in die «Klimahölle» – im Bundeshaus will man das nicht hören.
So wird quasi als Ersatzhandlung flugs die Autorität des EGMR unterminiert, wie Organisationen wie Operation Libero und Amnesty International in einem offenen Brief schreiben, und das mit der perfiden Begründung, der Gerichtshof selber schwäche mit dem Urteil seine «Legitimationsbasis». Gerichte sollen sich hüten, Urteile zu fällen, die dem Parlament nicht passen: Das ist die eigentliche Botschaft.
Es ist offensichtlich: Die bürgerliche Mehrheit im Parlament, sekundiert vom irrlichternden SP-Ständerat Daniel Jositsch, will einfach ihre Ruhe zurückhaben. Sie will nicht ständig von der Klimakrise hören, nicht Gesetze verabschieden, die so einschneidend wie nötig wären, nicht dem «Volk» erklären, wie bedrohlich die Krise wirklich ist. Alles, was stört, wird diskreditiert und verscheucht. Auch wenn damit zentrale Grundsätze der Gewaltenteilung infrage gestellt werden. Letztlich zeigt die pikierte Reaktion des Schweizer Parlaments, wie präzise die Anklage der Klimaseniorinnen war und wie genau sie den Kern des Problems getroffen hat.