Sicherheitspolitik: «Es ist eine historische Chance, sich von den USA zu lösen»

Nr. 12 –

Wer weiss Rat in der Debatte um die europäische Verteidigung? Zum Beispiel Li Andersson, die als Vorsitzende des finnischen Linksbündnisses für den Beitritt ihres Landes zur Nato war – und weiter für die atomare Abrüstung kämpft.

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Portraitfoto von Li Andersson
«Wollen die Regierungen ihre Rüstungsausgaben steigern, müssen sie die Reichen oder die US-Techkonzerne höher besteuern»: Die finnische Politikerin Li Andersson. Foto: Antti Yrjönen

WOZ: Frau Andersson, Russlands Vollinvasion der Ukraine hat auch in Finnland Gewissheiten über Bord geworfen: Im Frühjahr 2023 ist das Land der Nato beigetreten. Auch Ihre Partei, die damals der Regierung angehörte, sprach sich dafür aus. Wie schwer ist Ihnen als Linke das Ja zur Nato gefallen?

Li Andersson: Es war ein sehr schwieriger Prozess. Wir sind immer dezidiert gegen die Nato-Mitgliedschaft und für militärische Bündnisfreiheit eingetreten. Auf den russischen Angriffskrieg folgte dann aber eine Debatte in der gesamten Gesellschaft: War bis dahin die Mehrheit der Finn:innen gegen einen Nato-Beitritt gewesen, änderte sich das sehr schnell. Diese Verschiebung betraf auch unsere Wähler:innen, Mitglieder und Parlamentarier:innen. Wir öffneten die Diskussion, beschlossen in der Fraktion Stimmfreigabe. Eine Mehrheit stimmte dann zwar für den Nato-Beitritt, es gab aber auch Nein-Voten.

WOZ: Entlang welcher Trennlinien verliefen die parteiinternen Diskussionen?

Li Andersson: Es gab einen klaren Generationengraben: Einige ältere Mitglieder haben noch immer Mühe mit dem Entscheid. Wichtig ist aber, dass auch die jüngere Generation die jahrzehntelange Arbeit der Friedensbewegung respektiert. Wir haben in der Partei viel Zeit und Energie darauf verwendet, eine Diskussionskultur zu schaffen, die auch Uneinigkeiten zulässt, ohne Spannungen zu erzeugen, die zu einem Bruch führen könnten.

Die Sicherheitspolitikerin

Li Andersson (37) war bis letzten Herbst Vorsitzende der finnischen Partei Vasemmistoliitto (Linksbündnis). Diese gehörte von 2019 bis 2023 dem Regierungskabinett an; Andersson war als Bildungsministerin mit dabei.

Nach Ablösung der Fünfparteienkoalition durch eine Rechtsregierung wurde sie im Sommer 2024 ins EU-Parlament gewählt, wo sie unter anderem Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten ist.

Andersson, die dem finnlandschwedischen Bevölkerungsteil angehört, lebt in der Grossstadt Turku an der Südwestküste des Landes.

WOZ: Und wie verlief die Diskussion inhaltlich?

Li Andersson: In den Debatten ging es darum, Finnland in eine Sicherheitsarchitektur mit entsprechenden Garantien einzubinden. Bei der EU gibt es eine solche nicht. Und das skandinavische Verteidigungsbündnis, das einst diskutiert wurde, ist nie umgesetzt worden. Wir hatten uns immer gegen diese Initiativen gestellt, konnten also auch keine anderen Optionen vorschlagen. Wir haben es in der Vergangenheit versäumt, Alternativen zu entwickeln.

WOZ: Heisst das, die finnische Linke hat sich zu wenig mit dem Thema Sicherheit beschäftigt?

Li Andersson: Hätten wir eine nordische oder europäische Sicherheitsarchitektur als valable Alternative gehabt, wären wohl weder Finnland noch Schweden der Nato beigetreten. Die Gefahren, denen heute osteuropäische Länder wie Moldau, Georgien oder die baltischen Staaten ausgesetzt sind, sind ein internationales Sicherheitsproblem, mit dem sich auch die Linke in anderen Teilen Europas befassen muss. Das Gleiche gilt für die Ukraine.

WOZ: Die westeuropäische Linke hat Stimmen aus Osteuropa allerdings über Jahrzehnte ignoriert.

Li Andersson: Ja, dieses Problem gab es zweifellos. Die junge ukrainische Linke ist übrigens sehr gut darin, auf die Versäumnisse westlicher Genoss:innen hinzuweisen. Auch im EU-Parlament haben wir innerhalb unserer Fraktion viele Diskussionen zum Thema: Wir alle verstehen die Gefahren des Kriegs und eines Wettrüstens, wollen alle Frieden. Dass autoritäre Anführer andere Staaten angreifen, ist aber auch eine Tatsache. In solchen Fällen haben die Leute ein Recht auf Selbstverteidigung. Man kann den Ukrainer:innen nicht einfach sagen, Waffen seien schlecht. Über solche Fragen müssen wir viel mehr diskutieren.

WOZ: Hierzulande haben viele Bürgerliche das Gefühl, die Schweiz könne sich in Zukunft autonom verteidigen. Wie sehen Sie das aus der Position eines ebenfalls kleinen Landes?

Li Andersson: Vor dem Nato-Beitritt war Finnlands Position: Wenn wir nicht Teil eines Militärbündnisses sind, müssen wir uns selbst verteidigen können. Wir gaben schon vorher zwei Prozent des BIP für die Verteidigung aus. Das war der Preis für die Bündnisfreiheit. Zudem besteht weiterhin die allgemeine Wehrpflicht für Männer. Blockfreiheit bedeutete also nicht, dass wir kein Geld in die Armee steckten.

WOZ: Ist die Wehrpflicht auch unter finnischen Linken akzeptiert?

Li Andersson: Natürlich gibt es viele Diskussionen. Interessant finde ich, dass die älteren Generationen so klar dafür sind. Inzwischen haben aber die Jüngeren auch etwas mehr Verständnis für die Vorteile. Für sie ist höchstens problematisch, dass die Wehrpflicht nur für Männer gilt – sie wünschen sich mehr Gleichstellung. Der eigentliche Punkt ist: Die Wehrpflicht stellt sicher, dass Elite und Arbeiter:innenklasse den gleichen Preis für einen Krieg zahlen. Das schlimmste Gegenbeispiel sind die USA: Die weisse Oberschicht entscheidet, die US-Armee in Ländern wie Irak oder Afghanistan einzusetzen – und in den Krieg geschickt werden dann in der Regel Arbeiter:innen.

WOZ: Jetzt, da Finnland Teil der Nato ist: Welche Rolle soll es im Bündnis spielen?

Li Andersson: Für uns als Linke ist wichtig, dass sich die Nato auf ihre Ursprungsmission fokussiert: die Verteidigung. Gerade in der gegenwärtigen geopolitischen Situation. Wir sind strikt gegen alle Auslandseinsätze. Und wir setzen uns weiterhin gegen Atomwaffen ein. Es gibt also viele Punkte, die Finnland als Nato-Mitglied adressieren kann. Die grosse Frage wird sein, ob die Nato ihren Richtwert für nationale Rüstungsausgaben von zwei Prozent des BIP anhebt. Unsere Parteiposition ist: Ein fixer Prozentsatz ist eine schlechte Art, über Militärausgaben zu sprechen. Schon eine Anhebung um einen Prozentpunkt würde für Finnland Investitionen von mehreren Milliarden Euro bedeuten – und das in einer Situation, in der die rechte Regierung bereits harte Austeritätspolitik betreibt.

WOZ: Was wäre Ihr Vorschlag?

Li Andersson: Sinnvoller wäre eine Diskussion über konkrete Beschaffungen. Gibt es Investitionsbedarf, dem wir zustimmen können, dürfen die Ausgaben über die zwei Prozent hinausgehen. Im Anschluss sollte der Prozentsatz aber auch wieder sinken können. In Finnland wurde kürzlich in die Militärflotte und in Bodentruppen investiert. In dem Moment sind die zwei Prozent okay. Aber warum auf drei hochgehen, wenn es nicht wirklich nötig ist?

WOZ: Sie haben sich offensiv für den Atomwaffenverbotsvertrag ausgesprochen – nukleare Abschreckung ist aber eine zentrale Nato-Doktrin. Ist das nicht widersprüchlich?

Li Andersson: Aus finnischer Sicht war der Beistandsartikel 5 der Nato der wichtigste Beitrittsgrund. Niemand ist davon ausgegangen, dass im Ernstfall Atomsprengköpfe zum eigentlichen Verteidigungsmittel werden. Ich bin immer noch der Meinung, dass wir das Stigma von Atomwaffen aufrechterhalten müssen. Denn die beunruhigendste Entwicklung, die wir im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine gesehen haben, ist die Normalisierung des potenziellen Einsatzes kleiner taktischer Atomwaffen. Unabhängig von der Nato-Mitgliedschaft sollte die Linke sich deshalb lautstark für ein Verbot einsetzen. Die Nato entscheidet ja nicht über die Aussenpolitik ihrer Mitglieder.

WOZ: Kommen wir zur aussenpolitischen Kehrtwende, die die USA unter Donald Trump vollzogen haben. Was bedeutet sie für Europa?

Li Andersson: Am meisten Sorgen bereitet mir die ideologische Allianz zwischen Trump und Putin: Schon lange haben wir nicht mehr eine so krasse Stärkung autoritärer Tendenzen gesehen. Ich bin aber auch Optimistin. Wir sollten die Entwicklung als historische Chance sehen, um die Abhängigkeiten von den USA zu verringern. Vieles, was in Europa jetzt gesagt wird, wäre noch vor kurzem als linksradikal eingestuft worden. Zum Beispiel hat das EU-Parlament gerade für eine Resolution gestimmt, die fordert, dass Europa in der Lage sein sollte, innerhalb der Nato ohne die USA autonom zu handeln. Oder die Linke fordert, dass die EU dem militärisch-industriellen Komplex der USA die Finanzmittel streicht und die Gelder nach Europa umleitet – und die Rechten stimmen zu. Vielerorts wird derzeit auch diskutiert, ob man die bereits beschlossenen Beschaffungen von F-35-Kampfjets einfrieren soll. Auch das wäre, zumindest in Finnland, vorher eine linke Position gewesen. Und jetzt ist es eine breite Debatte!

WOZ: Letzte Woche hat die EU-Kommission den 800-Milliarden-Euro-Aufrüstungsplan ReArm Europe bekannt gegeben. Für wie tauglich halten Sie diesen?

Li Andersson: Die Kommission hat einfach eine Zahl festgelegt, ohne darüber zu sprechen, wer was wo tun sollte. Muss Portugal das Gleiche machen wie Polen? Und wie stellen wir geteilte Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten sicher? Das grosse Risiko besteht darin, dass dafür auf nationaler Ebene Sozialausgaben gekürzt werden. Ich finde es unverzeihlich, dass Nato-Generalsekretär Mark Rutte, in dessen Kompetenz das überhaupt nicht liegt, sagt: «Ihr wisst, dass ihr ein bisschen bei den Renten und im Gesundheitswesen sparen solltet.» Wenn Europa den Fehler begeht, Rüstungsausgaben mit der Kürzung von Sozialausgaben zu finanzieren, wird das bloss den Aufstieg von Putins und Trumps rechtsextremen Verbündeten in Europa weiter befördern. Aus linker Sicht ist deshalb völlig klar: Wir müssen die soziale Sicherheit verteidigen. Wollen die Regierungen ihre Rüstungsausgaben steigern, müssen sie die Reichen oder die grossen US-Techkonzerne höher besteuern.

WOZ: Der Plan der EU-Kommission ist also der falsche Weg?

Li Andersson: Ich habe mich im EU-Parlament der Stimme enthalten. Denn mit gewissen Teilen des Plans bin ich einverstanden, etwa damit, dass 150 Milliarden Euro von der EU kommen und in die europäische Rüstungsindustrie fliessen. Im Gespräch sind auch gemeinsame Beschaffungspläne mit der Ukraine, was ich gut finde. Womit ich nicht einverstanden bin, ist das 650-Milliarden-Ziel für die Mitgliedstaaten: Es ist nicht an der EU-Kommission, Ziele für nationale Rüstungsausgaben zu beschliessen.

WOZ: Der EU-Aufrüstungsplan sieht als Finanzierungsmassnahme auch neue Schulden vor. Was halten Sie davon?

Li Andersson: Ich bin nicht dagegen, Verteidigungsinvestitionen von den Verschuldungsregeln auszunehmen, denn das würde das Risiko senken, dass sie durch Kürzungen im Wohlfahrtsbereich finanziert werden. Aber die Ausnahmen sollten auch andere Arten von Investitionen umfassen, etwa in den Bereichen Energiewende und Bildung. Wir sind nämlich nicht nur in Militärfragen von den USA und Russland abhängig, sondern auch bei der Energie: Wir importieren Gas aus Russland, womit der Krieg gegen die Ukraine finanziert wird. Und auch für das Flüssigerdgas aus den USA zahlen wir einen hohen Preis.

WOZ: Sie gehen in Ihren Annahmen aber davon aus, dass es Aufrüstung grundsätzlich braucht, oder? Auch das ist ja in der Linken ziemlich umstritten …

Li Andersson: Die Position der finnischen Linken war schon immer: Wir müssen unser Land im Angriffsfall verteidigen können, aber das bedeutet nicht, dass wir unser Militär so hochrüsten müssen, wie es die USA getan haben. Das ist ein entscheidender Unterschied. Das Gleiche gilt für Europa: Wollen wir wirklich in der Lage sein, uns zur Wehr zu setzen, müssen wir ein glaubwürdiges Verteidigungsniveau haben. Zugleich ist es aus linker Sicht wichtig, die Sicherheitspolitik nicht nur militärisch zu verhandeln.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Li Andersson: Bei Sicherheit geht es auch um Zusammenhalt in der Gesellschaft, um Sozial- und Bildungspolitik. Es braucht aber auch eine Vision für das internationale Recht und internationale Institutionen in einem multilateralen System. Wir müssen jene Stimme sein, die daran erinnert. Die Kombination aus erhöhten Militärausgaben und der Erosion des Respekts für internationales Recht ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Und leider war die EU dabei einer der wichtigsten Akteure.

WOZ: Inwiefern?

Li Andersson: Nehmen wir die Position bezüglich Gaza: Grosse EU-Länder sagen, sie seien nicht bereit, Benjamin Netanjahu festzunehmen, wenn er ihr Territorium betritt, obwohl gegen ihn ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt. Wie kann man dann von anderen erwarten, sie würden den Haftbefehl gegen Putin respektieren? Die Linke muss auch eine laute Stimme gegen Doppelstandards sein.

WOZ: Sie haben im Gespräch mehrfach die europäische Sicherheitsarchitektur erwähnt, was immer sehr schön tönt. Aber wie genau stellen Sie sich diese vor?

Li Andersson: Ein Weg wäre eine Nato ohne die USA – oder zumindest eine, in der die Länder unabhängig von den USA agieren können. Eine zweite Möglichkeit wäre die EU. Zwar gibt es in den EU-Verträgen Paragrafen, in denen es um gegenseitige Unterstützung geht; es ist aber nicht definiert, was das konkret heisst. Das müsste sich ändern. Bei meinen nordischen Kolleg:innen wird auch über die sogenannte Jef-Kooperation (Joint Expeditionary Force) unter Einbezug der beiden Nicht-EU-Staaten Grossbritannien und Norwegen diskutiert. Bei allen drei Optionen müssten zwei Dinge im Zentrum stehen: das gemeinsame Verständnis, dass einem angegriffenen Staat geholfen wird – und eine Struktur der militärischen Zusammenarbeit, damit es eine tatsächliche Sicherheitsarchitektur ist.

WOZ: Schauen wir zum Schluss nochmals auf die Schweiz. Das Land – geografisch in der Mitte Europas, von Nato-Staaten umgeben – will neutral bleiben und sich so weiterhin alle Optionen offenhalten. Haben Sie Verständnis für diese Position?

Li Andersson: Ja, denn die Schweiz ist ja nicht in dem Masse bedroht wie andere Länder. Und ich denke, die Welt braucht bündnisfreie Stimmen. Diese Position lässt sich auch nutzen, um Brücken zwischen dem Globalen Norden und Süden zu bauen sowie eine starke Stimme für internationales Recht und multilaterale Institutionen zu sein.