Debatte: Eine gerechte Sicherheit ist möglich

Nr. 11 –

Die Linke muss die Diskussion um die Unterstützung der Ukraine und Europas Sicherheit mitprägen. Entscheidend ist die Frage der Finanzierung.

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Russlands Angriffskrieg, verbunden mit dem dramatischen Wandel der US-Aussenpolitik, hat Europas Verwundbarkeit offenbart. Jahrzehntelang verliessen sich die europäischen Länder auf die Militärmacht der USA – in der Annahme, grossflächige Konflikte auf dem Kontinent gehörten der Vergangenheit an. Nun, da die Unterstützung der USA für die Ukraine in der Schwebe ist – für ein Land, das die letzte Verteidigungslinie der europäischen Sicherheit bildet –, steht Europa vor einem entscheidenden Moment.

Mit dem weltweit zunehmenden Autoritarismus und dem Zerfall von Militärbündnissen kann die Frage der militärischen Sicherheit auch von der Linken nicht länger ignoriert werden. Hat sie aber auch ein konkretes Programm, um die Krise anzugehen? Wenn sie weiterhin bloss die grassierende Militarisierung kritisiert, ohne Lösungen für die sehr realen Sicherheitsbedrohungen anzubieten, verabschiedet sie sich aus der Debatte. Und lässt die Gesellschaft zugunsten der eigenen ideologischen Reinheit und Selbstgefälligkeit im Stich.

Hanna Perekhoda

Die ukrainische Historikerin Hanna Perekhoda (31) ist Doktorandin an der Uni Lausanne und Mitglied der linken Organisation Sozialnyi Ruch. Aktuell forscht sie zur Stellung der Ukraine in Russlands politischer Vorstellungswelt.

Portraitfoto von Hanna Perekhoda
Foto: Filippa Ljung

Jene nämlich, die für eine Entmilitarisierung eintreten, haben mit einer harten Realität zu kämpfen: Russland hat gegen das Völkerrecht verstossen, führt bereits einen Krieg gegen die Ukraine und ist in einem hybriden Krieg in den EU-Staaten aktiv. Wollen linke Parteien relevant bleiben, müssen sie eine klare Haltung zu Verteidigungsstrategien entwickeln. Die militärische Sicherheit zu ignorieren, würde es rechten Kräften bloss ermöglichen, das Gespräch zu dominieren und die Linke als naiv und realitätsfern darzustellen – und in diesem Fall hätten sie nicht einmal unrecht.

Keller-Sutters Kuschelkurs

Die Verteidigung zu sichern, bedeutet, Geld in sie zu investieren. Mindestens so umstritten wie die Wahl der Mittel dürfte dabei ihre Finanzierung sein. Streng genommen gibt es drei Möglichkeiten, wo das Geld herkommen kann.

Der gefährlichste Ansatz wäre die Kürzung von Sozialausgaben zur Finanzierung der militärischen Expansion. Diesen Weg schlagen die Neoliberalen bereits vor: Budgets für Gesundheit, Bildung, Renten und Soziales zusammenstreichen und die Mittel in die Verteidigung umleiten. Natürlich formulieren sie ihre Absichten nicht so. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa sagt, er wolle die Militärausgaben steigern, «ohne Steuern zu erhöhen». Dabei ist offensichtlich, dass eine Schwächung der sozialen Sicherheit die Ungleichheit vertiefen, soziale Unruhen schüren und letztlich Demokratien destabilisieren würde. Eine solche Austeritätspolitik würde bloss antidemokratische Kräfte stärken. Angesichts ihrer offenen Unterstützung rechtspopulistischer Parteien ist ein solcher Schritt genau das, was sich Donald Trump und Wladimir Putin erhoffen.

Eine andere Lösung stellt die Erhöhung der Steuern für Superreiche und multinationale Konzerne dar. Europa ist die Heimat einiger der reichsten Menschen und gewinnträchtigsten Unternehmen der Welt, von denen viele über die Jahre enorm von Europas Stabilität profitiert haben. Dass sie den grössten Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten, ist lediglich fair. Durch die Einführung progressiver Vermögens- und Energiesteuern sowie strengerer Vorschriften für die Unternehmensbesteuerung könnten Einnahmen erzielt werden, ohne den Bürger:innen zu schaden. Eine solche Strategie erfordert jedoch eine starke Koordination, um die Kapitalflucht in Niedrigsteuerländer zu verhindern. Trumps jüngste Ankündigung von goldenen Visa für Ultrareiche deutet darauf hin, dass er sich bereits auf ein solches Szenario vorbereitet – und die USA als sicheren Hafen für Steuervermeider:innen anbietet.

Die Schweiz hingegen ist aus genau diesem Grund nicht Teil der EU: weil sie ein Steuerparadies bleiben will. Das ist nicht neu. In Zeiten internationaler Krisen, als andere Länder jeweils ihre Steuern erhöhen mussten, empfing die Schweiz Milliardär:innen mit offenen Armen und wurde dadurch unanständig reich. Die gleiche Strategie könnte sie jetzt erneut anwenden. Bei Karin Keller-Sutters Kuschelei mit J. D. Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz sollte zwischen den Zeilen gelesen werden: Die Schweizer Bundespräsidentin will mit ihrem Lob für dessen Rede den potenziellen Kund:innen versichern, das Land sei noch immer ein sicherer Hafen für deren Geld – und würde bei respektlosen oder aggressiven Handlungen gegen europäische Länder auch weiterhin ein Auge zudrücken.

Die dritte Option besteht darin, die eingefrorenen russischen Zentralbankgelder in Höhe von 300 Milliarden Euro zu beschlagnahmen und sie zur Finanzierung der ukrainischen Verteidigung sowie zur Stärkung der europäischen Sicherheit zu verwenden. Damit würde Russland für seine Kriegsverbrechen finanziell zur Rechenschaft gezogen. Die europäischen Behörden befürchten allerdings, dass ein solcher Schritt einen Präzedenzfall schaffen würde, der ihre Finanzsysteme für jene als unzuverlässiger erscheinen liesse, die in souveräne Staaten einfallen und Kriegsverbrechen begehen. Tatsächlich scheint Gerechtigkeit gefährlich zu sein in einem System, das auf dem Schutz der Interessen der Reichen und Mächtigen aufgebaut ist. Würden wir moralische Massstäbe in der Politik anerkennen, riskierten wir nämlich, die Grundlagen des Kapitalismus selbst infrage zu stellen – in der Tat ein undenkbares Szenario für jene, die von seinen Ungerechtigkeiten profitieren.

Kollektiv wirds günstiger

Die Linke muss die falsche Wahl zwischen Gerechtigkeit und Sicherheit zurückweisen. Sie muss sich gegen Kürzungen der Renten oder im Gesundheitswesen wehren – und sich stattdessen für Steuergerechtigkeit einsetzen. Die Rolle der Schweizer Linken ist dabei entscheidend.

Statt dass jede Nation ihr eigenes Militärbudget aufstockt, könnte Europa auch seine kollektiven Sicherheitsmechanismen stärken. Zwingend muss dabei die Energiesicherheit als Teil der Militärstrategie betrachtet werden: Indem wir die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen verringern, verhindern wir auch künftige wirtschaftliche Erpressungen durch Russland. Selbst ohne eine Aufstockung des konventionellen Militärs muss Europa die Cyberverteidigung und den Informationsaustausch verstärken, russischer Propaganda entgegentreten und rechtliche Massnahmen gegen die Einflussnahme bei Wahlen durchsetzen. Zudem sollte die Schaffung eines multilateralen europäischen Verteidigungsprojekts unabhängig von US-Einfluss geprüft werden. Schliesslich könnte die Diplomatie überdacht werden: Ein Engagement auf Augenhöhe mit Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien würde ein Gegengewicht zum Einfluss Chinas, Russlands und der USA bilden und Russlands wirtschaftliche Möglichkeiten einschränken.

In erster Linie aber muss die Linke dringend auf die Beschlagnahmung russischer Staatsvermögen drängen: Eine Verzögerung dieser Entscheidung aus Sorge um die Finanzeliten ermutigt nur die Aggressoren.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.