Nordeuropa: Wirklich keine Wahl?
Es macht fast den Eindruck, als wäre ein baldiger Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens bereits beschlossene Sache. Dabei melden sich immer mehr zweifelnde Stimmen zu Wort, und die Forderung nach Volksabstimmungen steht im Raum.
Auf der Europakarte der Nato-Mitgliedstaaten gibt es ganz im Norden des Kontinents den grössten verbliebenen weissen Fleck. Wird er noch im Laufe dieses Jahres Nato-blau eingefärbt? Als Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine scheinen die Regierungen Finnlands und Schwedens ihre Länder im Rekordtempo in die westliche Militärallianz bugsieren zu wollen. Umfragen signalisieren Unterstützung aus der Bevölkerung: In Finnland eine Ja-Mehrheit von 62 Prozent, in Schweden sind es 51 Prozent. Allerdings variiert die Zustimmung von Umfrage zu Umfrage, sie wird offenbar stark von aktuellen Entwicklungen in der Ukraine geprägt.
Ist die Entscheidung für einen Beitritt denn schon definitiv gefallen? Ulf Bjereld, Professor für Staatswissenschaft an der Universität Göteborg, glaubt und hofft das nicht. «Ich bin skeptisch. Natürlich versuchen die Befürworter, das so darzustellen», sagt er. Dabei eigne sich das Thema nicht für einen übereilten Beschluss, «dafür ist es zu komplex». Ähnlich klingt Magnus Christiansson, Nato-Spezialist an der Schwedischen Verteidigungshochschule in Stockholm. Mit Blick aufs Nachbarland Finnland bemängelt er die Entscheidungsgrundlage: In Helsinki habe die Regierung Mitte April einen sicherheitspolitischen Rapport vorgelegt, der nicht einmal ansatzweise die versprochene Pro- und Kontra-Abwägung leiste. «Man liest darin weder etwas von den Vorteilen, der Nato nicht beizutreten, noch von den Nachteilen einer Mitgliedschaft», so Christiansson. Das Papier diene bloss «dazu, den Weg in die Nato freizumachen», kritisiert er – obwohl er selbst Befürworter einer Nato-Mitgliedschaft ist.
Abrupte Kehrtwende in Finnland
Die finnische Regierung der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Sanna Marin hat aber bereits einen deutlichen Standpunkt bezogen: Russlands Krieg in der Ukraine beweise, dass Finnland mehr Sicherheit brauche – und die gebe es einzig unter dem «Atomwaffenschirm» der Nato. Forscher:innen bezeichnen diese Haltung aber als Wunschdenken. Finnland und Nordeuropa würden mit einem Nato-Beitritt nicht sicherer, sondern unsicherer werden, sagt etwa Tarja Cronberg, einst Vorsitzende der finnischen Grünen und Arbeitsministerin, heute beim renommierten Friedensforschungsinstitut Sipri in Stockholm tätig. Offenbar wollten die Politiker:innen in beiden Ländern gerade Handlungskraft demonstrieren. Aber Cronberg warnt: «Es gibt kein europäisches Sicherheitssystem ohne, sondern nur mit Russland.»
Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gab es im finnischen Reichstag lediglich zwei Parteien, die für eine Nato-Mitgliedschaft plädierten: die konservative Nationale Sammlungspartei und die liberale Volkspartei der schwedischen Minderheit. Die übrigen sechs wollten an der «Allianzfreiheit» festhalten, auf deren Basis Finnland seit 1992 seine Sicherheitspolitik definiert. Damals lief der 1948 zwischen Finnland und der Sowjetunion geschlossene «Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand» aus, womit die Phase der «Neutralität» endete: der Preis, den Finnland wegen seines Krieges gegen die Sowjetunion an der Seite NS-Deutschlands hatte zahlen müssen.
Noch Anfang März – also nach Kriegsbeginn – hatte Sanna Marin gesagt, dass ein Nato-Beitrittsantrag zumindest während der bis Mitte 2023 laufenden Legislaturperiode ausgeschlossen sei. Schon zwei Wochen später galt das nicht mehr. Und von den Parlamentsparteien meldet mittlerweile einzig noch die Linkspartei grundsätzliche Zweifel an einer Nato-Mitgliedschaft an.
Parlamentsmehrheit in Schweden
«Allianzfreiheit im Frieden, Neutralität im Krieg» lautet in Schweden das sicherheitspolitische Prinzip. Es gilt seit dem EU-Beitritt 1995. Um einen kriegsgeilen Monarchen zu stoppen, hatte der Reichstag in Stockholm 1812 das Land kurzerhand für «neutral» erklärt – eine Neutralität, die zwei Jahrhunderte lang Bestand hatte, trotz teilweise deutlicher Schlagseite. Mit einer Nato-Mitgliedschaft wäre nach der Neutralität auch der offizielle Status der Allianzfreiheit Vergangenheit, und auf den hat man – bei aller engen Zusammenarbeit mit der Nato – bislang immer grössten Wert gelegt.
Am 8. März bekräftigte Magdalena Andersson, Regierungschefin der sozialdemokratischen Minderheitsregierung, ausdrücklich die Bedeutung der «militärischen Bündnisfreiheit» auch angesichts des Krieges in der Ukraine: Die sei nicht nur für Schweden von Vorteil, sondern trage auch zur Sicherheit und Stabilität in Europa bei. Eine schwedische Nato-Mitgliedschaft würde «die Lage in Europa nur zusätzlich destabilisieren», so Andersson. Drei Wochen später, nach einem Treffen mit ihrer finnischen Amtskollegin, bei der sich die beiden offenbar auf ein abgestimmtes Vorgehen verständigten, galt das nicht mehr.
Damit stellte sich Andersson parteiintern teils in den Gegenwind. Stefan Löfven und Göran Persson, ihre beiden sozialdemokratischen Vorgänger im Ministerpräsidialamt, haben sich öffentlich gegen einen Nato-Beitritt positioniert – ähnlich wie die Jungsozialist:innen und führende Vertreter:innen vor allem des linken Parteiflügels. Die zentralen Argumente: Schweden solle keinem Militärbündnis angehören, das Angriffskriege führe, eine Atomwaffenallianz bilde und einen Mitgliedstaat wie die Türkei habe, der militärisch ähnlich agiere wie Russland. Schweden dürfe die Entscheidung über Krieg und Frieden im Ernstfall überdies nicht einem US-Präsidenten überlassen.
Im schwedischen Reichstag hingegen zeichnet sich eine Mehrheit für den Beitritt ab, die von den Rechtspopulist:innen bis zu den Liberalen reicht. Während Linke und Grüne an ihrem Nein festhalten, haben die Sozialdemokrat:innen ihre Entscheidung für die zweite Maihälfte angekündigt. Noch heisst es in ihrem Parteiprogramm eigentlich: «Schwedens Partnerschaft mit der Nato trägt zur Sicherheit in Nordeuropa bei. Eine Mitgliedschaft hätte den gegenteiligen Effekt.» Nun wird ihre Positionierung entscheidend sein.
Sowohl in Finnland wie in Schweden gibt es zunehmend Kritik an der Hast, mit der historische Weichenstellungen durchgepeitscht werden sollen. Auch dass allein die gegenwärtige Parlamentsmehrheit über einen Beitritt verfügen soll, wird zunehmend hinterfragt: Sie nehme nicht an, dass die Politiker:innen nur ihre eigenen Söhne und Töchter für die Nato aufs Schlachtfeld führen wollten, sagt Nooshi Dadgostar, Vorsitzende der schwedischen Linken: «Also geht das doch die ganze Bevölkerung an.» Vor dem EU-Beitritt hat es in beiden Ländern ein Referendum gegeben, warum nicht auch jetzt zur Nato? Die gleichlautende Antwort aus Stockholm und Helsinki: Dafür bleibe keine Zeit.
Eine neue Kriegshysterie?
«Es gibt nichts, was diese panische Eile bei so einer wichtigen Frage rechtfertigt», kritisiert Pierre Schori, einst Entwicklungshilfeminister und Uno-Botschafter Schwedens. Wer von einer einmaligen Ausnahmesituation und einer neuen Realität rede, argumentiere ganz einfach geschichtsvergessen. Andere Kritiker:innen vergleichen die jetzige Situation mit der politisch und medial aufgeputschten Stimmung nach dem 11. September 2001, die den verhängnisvollen Kriegen in Afghanistan und im Irak voranging. So erkennt Finnlands ehemaliger sozialdemokratischer Aussenminister Erkki Tuomioja in der aktuellen Debatte eine regelrechte «Kriegshysterie». Gerade eine Situation, in der viele Menschen verängstigt und über den russischen Angriff auf die Ukraine zu Recht empört seien, mache es schwer, «einen analytischen Beschluss zu fassen» und «sich über die Tragweite unterschiedlicher Alternativen klar zu werden», warnt Tuomioja. Aufgabe einer Regierung sei es, einen kühlen Kopf zu bewahren – und sich nicht ohne gründliche Analyse zu einer nur schwer revidierbaren Entscheidung treiben zu lassen.