Auf allen Kanälen: Leben auf dem Friedhof

Nr. 34 –

Immer weniger Rezensionen und bei SRF keine internationalen Filmfestivals mehr: Die Kulturberichterstattung ist stärker unter Druck denn je, wie sich auch bei einem Podium in Locarno zeigte.

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stilisiertes Foto eines Leoparden im Wasser

Vielleicht war bloss die Frage falsch gestellt. «Filmfestivals ohne Filmkritik?» lautete der Titel eines Podiums am Festival in Locarno, doch der Moderator stellte gleich klar: Es werde hier primär darum gehen, dass es für Filmjournalist:innen immer schwieriger geworden sei, Interviews mit grossen Stars zu bekommen – weil diese gerade an Festivals oft gar nicht mehr dafür zur Verfügung stehen.

Falsche Frage oder nicht, es war doch bezeichnend: Selbst dann, wenn sie bei einem Podium explizit im Titel steht, spielt die Filmkritik offenbar keine Rolle mehr.

Dass Rezensionen in der medialen Ökonomie nicht eben hoch im Kurs stehen, ist nicht neu. Als Inbegriff für besonders eintönige Kulturteile kursierte einst die böse Chiffre von den sogenannten Rezensionsfriedhöfen – als ob jedes Buch und jeder Film dadurch, dass sie besprochen werden, auch gleich zur ewigen Ruhe gebettet statt ins Gespräch gebracht würden. Die Digitalisierung hat das nochmals verschärft, die Kulturteile sind vielerorts zu Friedhöfen ohne Rezensionen kaputtgespart worden. Mit Servicehinweisen wie «Streamingtipps» sind nun mal mehr Klicks und damit mehr Reichweite zu holen als mit Texten, die sich ausführlich mit einem künstlerischen Werk auseinandersetzen.

«Das klickt gar nicht»

Und erst recht mehr als mit Festivalberichten, wie Patrick Wellinski vom Deutschlandfunk beim Podium in Locarno erzählte: «Am schlimmsten ist, wenn noch die Onlinechefin dazugerufen wird, die sagt: ‹Bitte nichts über Filmfestivals, das klickt gar nicht.›» Beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) ist man diesbezüglich offenbar bereits einen Schritt weiter. Wie Moderator Selim Petersen zum Auftakt des Panels publik machte, werde SRF aus Spargründen künftig nur noch über Festivals im Inland berichten – weshalb ihm gekündigt worden sei. Seine Kollegin vom Radio hatte es via Facebook schon im Frühjahr aus Cannes vermeldet: Berlin, Cannes oder Venedig finden bei SRF ab sofort nicht mehr statt.

Aber nicht nur dort, wo es um Festivalberichte geht, ist der Legitimationsdruck grösser geworden. Kürzlich wurde bekannt, dass die «New York Times» vier namhafte Kritiker:innen (für Theater, Fernsehen, Pop und Klassik) für andere Aufgaben abkommandiert, weil man die Kulturberichterstattung «über die traditionelle Rezension hinaus» erweitern wolle, wie es hiess. Das zeuge von einer bedenklichen Geringschätzung der Kritik, schrieb darauf der Filmkritiker Richard Brody in einem Plädoyer im «New Yorker». Nichts gegen neue Formate, so Brody, aber die geschriebene Rezension sei keinesfalls ein publizistisches Relikt, sondern weiterhin unerlässlich als Basis jeder kulturkritischen Praxis.

Man muss mit Brody nicht einiggehen, wenn er die klassische Besprechung als «progressivste Form» von Kulturjournalismus verklärt. Aber es ist relativ banal: Andere Formen und Zugänge kommen in allen anderen Ressorts genauso vor – die Rezension ist schlicht die einzige genuin kulturjournalistische Textsorte.

Fixiert auf Stars

Irgendwie auch bezeichnend: Beim Panel in Locarno war es zuletzt ein Gast aus dem Publikum, der in einem leidenschaftlichen Votum das Schwinden der Kritik in hiesigen Medien beklagte. Je länger, desto mehr vermisse er da eine «intensive Auseinandersetzung» mit künstlerischen Werken. (Dazu kommt: Die wenigen Rezensionen, die überhaupt noch erscheinen, sind dann überall dieselben, als Folge der Medienkonzentration.) Zum erklärten Thema des Podiums, dem Problem also, dass Stars kaum mehr für Interviews zu haben sind, hatte der Mann auch eine klare Meinung: Eine «furchtbare Fetischisierung eines Nebenaspekts» sei das, «kommen Sie doch zur Sache!».

Ironischerweise war es zuvor auf dem Podium ausgerechnet Christian Jungen gewesen, Direktor und seit einem Management-Buy-out neuerdings auch Mitbesitzer des Zurich Film Festival (ZFF), der die Kritiker:innen an ihr Kerngeschäft erinnerte: Die sollten doch bitte auch an Festivals gehen, um dort Filme zu schauen, «und ihr Seelenheil nicht davon abhängig machen, ob sie nun zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten mit dem Star kriegen». Reichlich scheinheilig zwar, wenn der Chef des starfixierten ZFF das sagt. Aber wo er recht hat, hat er recht.