Zukunft der Alpen: «Die Schwächung der Berge ist irreversibel»

Nr. 23 –

Für den Glaziologen Wilfried Haeberli ist absehbar: Bergstürze werden sich in der Schweiz bald jährlich ereignen, weil die Erwärmung des Permafrosts zunimmt. Kann man lernen, mit diesem Risiko zu leben?

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Blick ins Lötschental, im Hintergrund der Schuttkegel des Bergsturzes
«Jetzt ist der Berg unten, er wird nicht mehr kommen, das Leben wird weitergehen.» Und zwar möglichst wie bis anhin, hoffen viele im Lötschental. Foto: Monika Flückiger

WOZ: Nach dem Bergsturz von Blatten letzte Woche war von einem «Jahrhundert-», sogar von einem «Jahrtausendereignis» die Rede. Stimmt diese Einstufung aus Ihrer Sicht als Glaziologe?

Wilfried Haeberli: Ja und nein. Die Einstufung trifft vom Schadensbild her zu: Die Auslöschung eines jahrhundertealten Bergdorfs wie Blatten passiert äusserst selten. Doch wenn man sich das physikalische Phänomen anschaut, dann war das Ereignis weder ausserordentlich noch einzigartig. Da gibt es noch viel grössere natürliche Vorgänge: Bergstürze mit hundert Millionen Kubikmeter Material und mehr, die in Bewegung geraten. Im Lötschental waren es mehrere Millionen.

WOZ: Für mich als geologischen Novizen: Was genau definiert einen Bergsturz?

Wilfried Haeberli: Dass mehr als eine Million Kubikmeter Stein, manchmal mit Eis, ins Rutschen geraten. Alles darunter ist ein Felssturz. So weit der Sprachgebrauch.

Portraitfoto von Wilfried Haeberli
Wilfried Haeberli. Foto: Florian Bachmann

WOZ: Was können Sie über die Zahl der Bergstürze in der Schweiz sagen: Hat sie zugenommen?

Wilfried Haeberli: Im dicht besiedelten Alpenraum verfügen wir über eine gute Dokumentation. Grosse Bergstürze werden nicht übersehen. Und tatsächlich ist die Zunahme von Bergstürzen im Hochgebirge eindeutig. Zwischen 1900 und 1980 wurden vier gezählt, es ereignete sich also alle zwanzig Jahre einer. Zwischen 1980 und 2000 waren es nochmals vier, also alle fünf Jahre einer. Seit dem Jahr 2000 haben sich mit dem von Blatten mitgezählt bereits acht ereignet – im Schnitt also etwa alle drei Jahre. Wenn das so weitergeht, werden sich in absehbarer Zeit jährlich solche Stürze ereignen.

WOZ: Können Sie bereits erklären, wie der Bergsturz in Blatten genau ablief?

Wilfried Haeberli: Es wird ausgedehnte Studien brauchen, aber das erste Bild ist eigentlich klar: Eine Bergflanke am kleinen Nesthorn, etwa auf 3000 Metern über Meer, war schon lange instabil. Diese Flanke befand sich im Permafrost bei einer Temperatur von etwa zwei bis drei Grad unter null. Der Permafrost reichte mindestens hundert Meter tief in den Berg hinein. Diese mächtigen gefrorenen Gesteinspakete erwärmten sich und gerieten, wie Messungen zeigten, zunehmend in Bewegung. Erst kamen kleine Stürze herunter. Schon das hat für mich nicht gut ausgesehen, denn auf dem darunterliegenden Gletscher bildete sich eine Schutthalde. Die Behörden haben dann sehr gut erkannt, dass der Gletscher mit dem abgelagerten Schutt als Ganzes ins Tal herunterkommen könnte. Welch ungeheure Dynamik das entfaltet, war schliesslich auf den Filmaufnahmen zu sehen.

Der Permafrostexperte

Wilfried Haeberli (78) ist emeritierter Professor für Physische Geographie an der Universität Zürich.

Er schrieb seine Dissertation über den alpinen Permafrost an der Universität Basel, später baute er als Mitarbeiter der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich das Permafrostmesssystem in den Alpen mit auf.

Von 1986 bis 2010 war Haeberli Direktor des World Glacier Monitoring Service.

WOZ: Gibt es eine Gemeinsamkeit bei den Bergstürzen der letzten Jahre?

Wilfried Haeberli: Bergstürze im Hochgebirge resultieren aus dem Zusammenspiel von drei Faktoren: der Topografie, die logischerweise steil sein muss, einer Gesteinscharakteristik, die labil und zerrüttet ist, sowie dem Eis, zu dem auch der Permafrost zählt. Auffällig ist, dass die jüngeren Sturzereignisse alle aus Permafrostflanken erfolgt sind. So auch der Bergsturz im April letzten Jahres am Piz Scerscen im Val Roseg. Vom Volumen her war er vergleichbar mit dem, was in Blatten passiert ist. Weil er sich in unbewohntem Gebiet ereignete, verschwand die Meldung darüber aber sofort wieder aus den Medien. Das war bedauerlich, denn dieser Bergsturz war bereits eine dramatische Warnung.

WOZ: Auf die Rolle des Permafrosts bei den Stürzen wollen wir gleich vertieft eingehen. Zuerst noch eine persönliche Frage: Wie sind Sie überhaupt zur Forschung auf diesem Gebiet gekommen?

Wilfried Haeberli: Das war eine emotionale Entscheidung. Ich war Bergsteiger und Kletterer, mich haben die Gletscher und die Berge fasziniert. Zudem wollte ich meine Dissertation über ein Thema schreiben, das Neuland war. Bis Anfang der siebziger Jahre hatte sich noch niemand systematisch mit Permafrost in Gebirgen beschäftigt. Es gab aber schon lange eine hochentwickelte Wissenschaft über Permafrost im Flachland, in Alaska, Sibirien oder Kanada, an die ich anknüpfen konnte.

WOZ: Wie lässt sich Permafrost in aller Kürze definieren?

Wilfried Haeberli: Als geothermischer Zustand. Permafrost ist Gestein im Untergrund, das während des ganzen Jahres eine Temperatur von weniger als null Grad Celsius aufweist. Weil der Permafrost im Gegensatz zu den Gletschern nicht an der Oberfläche sichtbar ist, wird er selbst in der Wissenschaft viel weniger stark wahrgenommen. Er lässt sich nur mit aufwendigen Mitteln wie etwa mit Bohrungen erschliessen. Dabei ist das Phänomen in den Alpen weit stärker verbreitet, als es die Gletscher sind: Für die Schweiz geht man davon aus, dass die Permafrostfläche ungefähr dreimal grösser ist als die verbliebene Gletscherfläche.

WOZ: Wie wirkt sich nun der Permafrost auf die Stabilität im Gebirge aus?

Wilfried Haeberli: Eigentlich ist es völlig trivial, dass das Gestein andere Eigenschaften hat, wenn es sich dauerhaft unter der Nullgradgrenze befindet. Jedes Kind weiss, dass man im Sandkasten keine Burgen bauen kann, wenn der Sand gefroren ist. Der Permafrost beeinflusst die Gesteinsfestigkeit und die Durchlässigkeit für Wasser. Bei minus drei oder vier Grad kann kaum mehr Wasser hineinkommen. Hydrologisch betrachtet, wirkt der Permafrost dann wie massiver Granit. Wenn sich der Permafrost hingegen erwärmt, dann kann auch Wasser ins Gestein eindringen und hohe Wasserdrücke aufbauen.

WOZ: Und wie beeinflusst die Klimaerwärmung den Permafrost?

Wilfried Haeberli: Aus Bohrlochmessungen wissen wir: Die Temperatur im Felspermafrost nimmt zurzeit alle zehn Jahre um 0,5 Grad zu. Das macht fünf Grad in einem Jahrhundert. Das Hochgebirge erwärmt sich schneller, als die globale Erwärmung steigt!

WOZ: Was sind die Folgen?

Wilfried Haeberli: Es findet eine mechanische Schwächung der Gebirge statt, die für lange Zeit irreversibel ist. Die Gletscher werden in den Alpen wahrscheinlich noch in diesem Jahrhundert verschwinden. Die Stabilität des aufgewärmten Permafrosts dürfte die Bevölkerung wohl noch auf Jahrhunderte hinaus beschäftigen.

Die Klimawissenschaftler:innen sind derzeit vorsichtig, den Klimawandel als Ursache für die Bergstürze zu bezeichnen. Für rechtskonservative Politiker:innen ist sowieso wieder einmal alles nur eine Folge der höheren Macht der Natur. Was sagen Sie zum Einfluss der Klimaerwärmung auf den Bergsturz in Blatten?

Wilfried Haeberli: Dass man die Frage anders formulieren muss.

WOZ: Was meinen Sie damit?

Wilfried Haeberli: Die Erklärung eines solchen Sturzes beruht immer auf einer Multifaktorenanalyse. Gab das Klima allein den Ausschlag? Nein. Das Gestein allein? Nein. Die Topografie allein? Nein. Es gehört alles zusammen, weil alles zusammenwirkt. Die Zuordnung eines einzelnen Falls zum Klima ist insofern die falsche Frage, weil das System als Ganzes betrachtet werden muss.

WOZ: Welches ist dann die richtige Frage?

Wilfried Haeberli: Wie die Entwicklung in der Zeit verläuft. Die Häufung der Stürze, die ja seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunimmt, hat nur eine Erklärung: die Veränderung des Klimas. Denn von den Hauptfaktoren her liefern weder die Topografie noch das Gestein ein Argument. Beide haben sich über Jahrtausende entwickelt, man spricht hier von einer langfristigen Disposition. Das Eis und damit auch der Permafrost verändern sich in den letzten Jahrzehnten wegen der Erderhitzung aber markant und schnell. Es ist diese veränderte kurzfristige Disposition, die zur Zunahme der Stürze führt. Es ist wichtig, dass man die Bedeutung des Permafrosts nicht einfach verschweigt. Die Alpen befanden sich seit der letzten Eiszeit während 10 000 Jahren in einem Zustand, in dem sich die Temperaturen im gleichen Schwankungsbereich befanden, wie etwa die Veränderungen der Gletscher belegen. Nach allen Informationen, die wir haben, geht die Erwärmung seit Ende des 20. Jahrhunderts darüber hinaus. Die Berge sind heute in einem Zustand, den sie bisher nicht kannten.

WOZ: Finden Sie, Ihre Kolleg:innen kommunizieren diese Entwicklung zu zurückhaltend?

Wilfried Haeberli: Ich finde, Sie leisten hervorragende Aufklärung. Als emeritierter Professor, der nichts mehr zu verlieren hat, kann ich mich aber noch einmal pointierter äussern: Mit der Atmosphäre wärmen sich auch die Gebirge auf, und die Erwärmung wird in immer grössere Tiefen hineingehen. Physikalisch ist das ganz eindeutig. Damit ist auch die Entwicklung der Zukunft vorgegeben. Es ist die wahrscheinlichste Variante, dass die Bergstürze zunehmen werden.

WOZ: Welche Orte sind dabei besonders gefährdet?

Wilfried Haeberli: Die Alpen sind zwar ein grosser Teil der Schweiz, aber die gefährdeten Stellen kann man durchaus evaluieren. Das sind Steilhänge im Hochgebirge mit einer Neigung von dreissig bis vierzig Grad, also ein kleinerer Teil der Alpen. Besonders exponiert sind dabei Situationen mit Seen. Stürzt eine Gebirgsflanke in einen See, kann sich eine enorme Flutwelle entwickeln. Wir haben schon 2017 die Situation in Kandersteg mit dem Oeschinensee analysiert und vor der Gefahr gewarnt. Dort hat man jetzt ein erstklassiges Messnetz eingerichtet und Schutzmassnahmen ergriffen. Auch Stauseen im Hochgebirge können gefährdet sein. Wenn jetzt die Konzessionierung vieler Kraftwerke neu ausgeschrieben wird, muss die Politik für entsprechende Sicherheitskonzepte sorgen. Schliesslich müssen wir auch die neuen Seen in die Überlegungen einbeziehen, die durch den Gletscherschwund entstehen werden: Mit bereits existierenden Modellrechnungen lässt sich sagen, wo sie liegen werden.

WOZ: Mit dem Unglück in Blatten ist auch wieder die Diskussion losgebrochen, ob nicht die Besiedlung von Alpentälern aufgegeben werden muss.

Wilfried Haeberli: Ich denke nicht, dass ganze Täler aufgegeben werden müssen. Viele steile Hänge befinden sich an Orten weitab von fester Infrastruktur. Aber es wird sicher einzelne Stellen geben, an denen sich die Frage stellt, ob es weiterhin haltbar ist, dass dort in Zukunft Leute wohnen. Je grösser das Zerstörungspotenzial ist, umso heikler ist die Situation. Oberste Priorität bei der Beurteilung, das zeigt die hervorragende Zusammenarbeit von Behörden, Fachleuten und der Bevölkerung im Fall von Blatten, muss der Schutz von Menschenleben haben.

WOZ: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist das Risiko der Bergstürze zwar hoch, aber es ist auch durchaus berechenbar. Tut die Schweiz genug zur Überwachung der Alpen?

Wilfried Haeberli: Die Schweiz verfügt heute über die weltweit besten Permafrostmessungen im Gebirge. Das Netzwerk trägt den Namen Permos, die Resultate sind online öffentlich für alle zugänglich. Ich bin sicher, dass sich die Schweiz mit ihren Technologien, ihrem Wissen und auch mit ihren grossen finanziellen Mitteln der Aufgabe stellen kann. Politisch wird man jetzt sicher auch die Überwachungssysteme diskutieren.

WOZ: Was ist Ihrer Meinung nach politisch nötig?

Wilfried Haeberli: Zum Beispiel, dass die Schweiz an internationalen Programmen zur Überwachung von Bergflanken mit Fernerkundung teilnimmt. Das sind modernste Technologien, die man anwenden kann. Natürlich hat das auch seinen Preis.

WOZ: Sie sind als Experte nicht nur in der Schweiz tätig, sondern vor allem auch international, haben Bergstürze im Himalaja untersucht oder auch im Kaukasus. Wie präsentiert sich die Situation dort?

Wilfried Haeberli: 2023 beispielsweise hat der Kollaps einer permanent gefrorenen Moräne in den Südlhonak-Gletschersee in Indien eine Flutwelle ausgelöst. Diese hat noch in sechzig Kilometern Distanz eine Staumauer zerstört und den vollen Stausee mitgenommen. Mindestens neunzig Personen haben das Leben verloren, und noch Hunderte Kilometer entfernt in Bangladesch wurden Siedlungen zerstört. Ich war als Experte für Permafrost an einer Untersuchung über das Unglück beteiligt, gemeinsam mit Geolog:innen, mit Radarspezialist:innen, Flutwellenmodellierer:innen, mit Behördenmitgliedern et cetera. Dank dieser transdisziplinären Vorgehensweise konnten Schlussfolgerungen gezogen werden, die über die physikalischen Erkenntnisse hinausgehen. Auch wenn es traurig tönt: Grosse Katastrophen führen zu den nötigen Lernprozessen. Das wird hoffentlich auch in Blatten der Fall sein.