Europa 2024: Das Prinzip Hoffnung

Nr. 51 –

In den sozialen Medien machte die Tage eine Szene aus der berühmten ukrainischen Serie «Diener des Volkes» die Runde. Präsident Wassyl Holoborodko, gespielt von TV-Star Wolodimir Selenski, erhält darin einen Anruf von Angela Merkel: «Herzlichen Glückwunsch, wir haben entschieden, Ihr Land in die EU aufzunehmen», teilt sie dem verdutzten Staatsoberhaupt mit. «Vielen Dank, die Ukrainer haben so lange drauf gewartet», jauchzt Holoborodko ins Telefon, im Hintergrund ertönt die «Ode an die Freude». «Die Ukrainer?», fragt Merkel. «Oh, entschuldigen Sie, das war ein Fehler. Ich wollte eigentlich Montenegro anrufen.»

Ausgestrahlt wurde die Serie 2015. Heute hängt Montenegro noch immer in der europäischen Warteschlaufe, Selenski hingegen ist nun im realen Leben ukrainischer Präsident, sein Land tatsächlich auf dem Weg in die EU. Letzten Donnerstag hat Brüssel offiziell Beitrittsgespräche mit Kyjiw aufgenommen. Zehn Jahre nach der «Euromaidan»-Revolution und bald zwei seit dem Beginn der russischen Invasion ist damit ein entscheidender Schritt getan. Auch wenn der Weg in die EU noch weit sein dürfte, die meisten Fragen zum Beitritt offen sind: Für viele Ukrainer:innen bis weit in linke Kreise hinein verheisst allein die Aussicht auf eine Zugehörigkeit zum exklusiven Klub eine Perspektive der Hoffnung.

Zwar löste die Nachricht aus Brüssel auf ukrainischen Strassen kaum Euphorie aus, dafür ist die militärisch-politische Lage in dem kriegsversehrten Land viel zu ernst. Doch wer mit Freund:innen und Bekannten in Kyjiw, Charkiw oder Lwiw spricht, wer dieser Tage die gestirnten blau-gelben Flaggen in Chişinău oder Tbilisi wehen sieht, kann die Anziehungskraft erahnen, die das bürokratische Gebilde namens EU auf jene ausübt, für die die Privilegien einer Mitgliedschaft nicht selbstverständlich sind.

Ganz anders die Stimmung in Bern, wo letzten Freitag drei Bundesrät:innen samt ihrem Entwurf für die Verhandlungen mit der EU vor die Presse traten: Von Euphorie oder wenigstens einer positiven Grundstimmung ist nichts zu spüren. Immerhin sprechen sich laut einer aktuellen Studie der Wirtschaftsverbände mehr Schweizer:innen für den bilateralen Weg aus als auch schon; eine Verheissung ist Europa hierzulande aber längst nicht mehr – dazu waren dreissig Jahre Anti-EU-Propaganda von rechts in den Köpfen zu wirkmächtig. Und auch die im Kern berechtigte linke Kritik an der neoliberalen Struktur hat Spuren hinterlassen. So etwas wie Leidenschaft für das Projekt, wie sie im östlichen Teil des Kontinents vielerorts zu spüren ist? Fehlanzeige.

Zwar ist mit dem bundesrätlichen Verhandlungsplan eine Einigung mit Brüssel tatsächlich ein Stück näher gerückt. Wahr bleibt allerdings auch: Was hierzulande seit dem dramatisch knappen EWR-Nein von 1992 fehlt, ist die europapolitische Vision. Dabei wäre eine Vorstellung davon, welchen Platz die Schweiz inmitten ihrer Nachbarn einnehmen will, heute dringlicher denn je: Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist schliesslich, darauf hat der britische Historiker Timothy Garton Ash zuletzt hingewiesen, auch jene Ära endgültig zu Ende gegangen, die mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 begann. «Wir befinden uns in den Anfangsjahren einer neuen Epoche, deren Namen und Charakter wir noch nicht kennen», schreibt er im «Guardian». In welche Richtung es geht, dafür werden gerade die Weichen gestellt.

Kommenden Juni wählen die EU-Bürger:innen ein neues Parlament – und entscheiden, ob die extreme Rechte in Brüssel zur führenden Kraft aufsteigt oder ob sich der Vormarsch von Schreckgestalten wie Geert Wilders, Björn Höcke und Herbert Kickl aufhalten lässt. Im Raum steht dabei auch eine weitaus grössere Frage: Was für ein Gebilde will die Union inskünftig sein: ein Europa der Solidarität, gerade auch an seinen Aussengrenzen, oder eines der Nationalismen? Die Diskussionen darüber wären ein passender Moment, um auch hierzulande eine entsprechende Vision zu entwickeln.