Aufklärung: Wer den Umsturz von 1789 wirklich vorangetrieben hat

Nr. 24 –

Vergesst Robespierre! Ehret die Brissotins! Der britische Historiker Jonathan Israel hat ein aussergewöhnliches Buch über die Französische Revolution geschrieben.

Noch ein Buch über die Französische Revolution – ist dazu nicht längst alles gesagt? Nicht unbedingt. Die Vergangenheit ist nie restlos auf den Begriff zu bringen, sondern prinzipiell offen für neue Deutungen. Deswegen sind alle HistorikerInnen auch EntdeckerInnen, sofern sie nicht bloss Lehrmeinungen wiederholen.

Dies gilt besonders für einen Forscher vom Format Jonathan Israels. Der britische Historiker verfolgt seit rund zwei Jahrzehnten mit übermenschlicher Energie das Programm einer umfassenden Neuinterpretation der europäischen Aufklärung: Seit «Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity» (2001) hat Israel seinem Projekt bereits Tausende Seiten und mehrere Monografien gewidmet. In einem nun auf Deutsch erschienenen Band über die Französische Revolution hat dieses seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Spinoza statt Rousseau

Israels grosse These besagt, dass das gängige Bild von der Aufklärung verzerrt ist. Während die Blütezeit der Aufklärung gemeinhin im 18. Jahrhundert verortet wird, setzt er bereits hundert Jahre früher an. Demnach habe sich schon im 17. Jahrhundert die entscheidende intellektuelle Strömung herausgebildet, die der Moderne den Weg bereitete. Das geografische Zentrum dieser «Radikalaufklärung» – die Israel streng von der späteren, «gemässigten» Aufklärung unterschieden wissen will – identifiziert er nicht in Paris, sondern in Amsterdam, und die für ihn zentrale Figur heisst nicht etwa Rousseau, sondern Spinoza.

Letztlich läuft dies auf das Urteil hinaus, dass in der Regel den falschen Protagonisten die Ehre zuteilwird, als Vorkämpfer der liberalen Demokratien betrachtet zu werden: Intellektuellen wie Kant etwa, die in Israels Deutung erst auf den Plan traten, als die entscheidenden Schlachten bereits geschlagen waren, und die sich überdies viel kompromissbereiter gegenüber der alten Ordnung zeigten als die mehr oder minder vergessenen früheren Radikalen.

Dass Spinoza für Israel zur Schlüsselfigur avanciert, liegt insofern nahe, als sich beim jüdischen Häretiker genau die Motive wiederfinden, die dem Briten zufolge die Radikalaufklärung insgesamt kennzeichnen: zum einen ein dezidierter Atheismus, der die Welt aus sich selbst heraus erklärt und nicht auf jenseitige Prinzipien zurückführt; zum anderen egalitäre Überzeugungen, die Spinoza bereits Mitte des 17. Jahrhunderts die These vertreten liessen, dass die Demokratie die «natürlichste» aller Regierungsformen sei.

Der Terror der Bergler

Auch Israels Rekonstruktion der epochalen Ereignisse ab 1789 steht quer zu gängigen Deutungen, die «New York Review of Books» sprach – halb bewundernd, halb skeptisch – «von einer der ungewöhnlichsten Geschichten der Französischen Revolution, die je verfasst wurden». Israel zufolge war «die» Revolution in Wirklichkeit nämlich eine dreifache: erstens ein demokratisch-republikanischer Umsturz, der die eigentliche welthistorische Bedeutung der Revolution ausmacht; zweitens ein gemässigter konstitutioneller Monarchismus; drittens ein «autoritärer Populismus».

Letzterer wird von der «Montagne» repräsentiert, der berüchtigten «Bergpartei», deren wichtigste Protagonisten Maximilien de Robespierre und Jean-Paul Marat waren. Bekanntlich regierten die Montagnards mit blankem Terror. Ein zentrales Anliegen Israels liegt nun darin, zu belegen, dass diese Gewaltherrschaft nicht als Kulminationspunkt des Aufbruchs von 1789 zu begreifen ist, sondern als Bruch. Andernfalls würde nämlich bloss die von den zeitgenössischen Feinden der Revolution in die Welt gesetzte Erzählung weitergestrickt, der Terror sei eine direkte Folge radikaler Ideen gewesen – mit der mehr oder weniger expliziten Botschaft, dass in Sachen Demokratie Mässigung angebracht ist.

Vorläufer des Faschismus?

Israel dagegen betrachtet den Rousseauisten Robespierre als Vertreter eines skrupellosen Populismus, «der den modernen Faschismus präfigurierte» – eine gewagte Analogie, die Israel aber entschieden vorträgt. Die Verrenkungen manch linker HistorikerInnen, den Terror zu relativieren oder als legitimes Mittel im Klassenkampf zu rechtfertigen, liegen ihm fern. Israels Helden sind vielmehr die oft als allzu kompromisslerisch beargwöhnten Girondisten, die er lieber «Brissotins» nennt, nach ihrem bedeutendsten Repräsentanten Jacques-Pierre Brissot.

Diesen wiederum beschreibt Israel als Anhänger ebenjener radikalaufklärerischen Ideen, die in Frankreich von materialistischen Philosophen wie Diderot oder Paul-Henri Thiry d’Holbach verbreitet wurden. Der Brite streicht so heraus, wie avantgardistisch die Brissotins waren: So verlangten sie nicht nur die Emanzipation der Frauen, sondern auch der Schwarzen. Vor allem den Brissotins sei es daher zuzuschreiben, dass die republikanische Verfassung von 1793 als Meilenstein der Weltgeschichte zu betrachten ist; mit dieser habe «die Radikalaufklärung den Höhepunkt ihrer Präsenz» erreicht.

Allerdings trat diese Verfassung nie in Kraft. Unmittelbar nachdem sie per Referendum angenommen worden war, putschte sich die Bergpartei an die Macht. Ausgerechnet einer der Hauptautoren dieser Verfassung, der radikalaufklärerische Philosoph Condorcet, musste vor Robespierres Schergen fliehen. Ihm und seinen KampfgefährtInnen hat Israel eine imposantes historiografisches Denkmal gesetzt.

Jonathan Israel: Die Französische Revolution. Ideen machen Politik. Reclam-Verlag. Ditzingen 2017. 990 Seiten. 72 Franken