Proteste in Frankreich: «Wir sollten die Gilets jaunes umarmen»

Nr. 49 –

Seit Mitte November halten die «Gelbwesten» Frankreich in Atem, am Wochenende kam es in Paris erneut zu schweren Ausschreitungen. Der französische Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie warnt davor, der Bewegung von oben herab zu begegnen.

WOZ: Monsieur de Lagasnerie, haben Sie Sympathie für die Bewegung der «Gilets jaunes»?
Geoffroy de Lagasnerie: Ich habe nicht nur Sympathie für die Bewegung, ich unterstütze sie voll und ganz. Wir erleben einen entscheidenden Moment des sozialen Protests, eine Revolte der populären Gesellschaftsklassen. Unter Intellektuellen führt oft ein Klassendünkel dazu, dass sie zu solchen Bewegungen auf Distanz gehen. Die Bewegung zu unterstützen, bedeutet nicht, alles an ihr gutzuheissen. Doch man sollte sie nicht vorschnell ablehnen, nur weil man sich in ihren Ausdrucksformen nicht gleich wiederfindet oder weil ihrer politischen Ausrichtung die ideologische Reinheit fehlt.

Was sind das genau für Leute, die auf die Strasse gehen?
Es sind Bewohner vom Land, aus den Agglomerationen und den Arbeiterquartieren, die sich zuerst in ihrer eigenen Umgebung versammelt haben – auf Strassenkreiseln oder an Tankstellen. Sozioökonomisch gesehen sind es vor allem Leute mit prekären Anstellungen, die den Mindestlohn verdienen oder vom Arbeitslosengeld leben. Der Journalist und Politiker François Ruffin hat im Norden Frankreichs Leute interviewt, die erzählen, wie sie die Woche hindurch ausschliesslich von Milch und Brot leben. Es sind Leute, die wegen Macrons geplanter Benzinsteuer nicht mehr zur Arbeit gehen könnten, weil sie es sich dann nicht mehr leisten können, den Tank ihres Autos zu füllen.

Die Proteste richten sich ja in erster Linie gegen diese Benzinsteuer, die Macron nun allerdings auf den äusseren Druck hin vorerst doch nicht einführen will.
Ja, Benzin bedeutet für viele die Fähigkeit, sich fortbewegen zu können – um zur Arbeit zu gelangen oder zum Arzt. Das Benzin ist ein Symbol für die Möglichkeit, mobil zu sein und nicht eingeschlossen zu bleiben. Doch die Steuer war lediglich der Auslöser: Die Ursache für die Proteste ist nicht nur ein Gefühl der steuerlichen Ungerechtigkeit, sondern die Armut. Es ist eine Armenbewegung. Die Gilets jaunes sind Leute, die nicht in Gewerkschaften oder Parteien sind, Leute, die keinen Zugang zur Politik, zu Medien oder zum Arbeitsmarkt haben. Es sind die Abwesenden der Politik der letzten zwanzig Jahre – diejenigen, die man als rassistisch und zurückgeblieben bezeichnet. Nun drängen sie auf ihre eigene Weise in den Vordergrund. Inzwischen geht es nicht nur um Steuern, sondern um Ausbeutung und die Verteilung des Reichtums.

Sie glauben, dass Armut die einzige Ursache für die Proteste ist?
Fast. Es ist eine Bewegung, die den Grundbedürfnissen entspringt: Jemand, der in Frankreich vom Mindestlohn lebt, hat monatlich rund 32 Euro für Freizeitaktivitäten zur Verfügung. Macrons Erhöhung des Benzinpreises frisst diesen Leuten rund 16 Euro weg, also die Hälfte dieses Freizeitbudgets. Die Pariser Bourgeoisie kann sich schlecht vorstellen, was das bedeutet. Es ist also eine sehr materialistische Bewegung. Hinzu kommt die Erstickung der Demokratie durch die Regierung. In den letzten zwei Jahren haben die Eisenbahner protestiert, die Studenten, die Krankenpfleger und viele andere. Doch der rigide Macronismus hat keinem der Proteste nachgegeben. Das hat jetzt diesen Wutausbruch provoziert.

Sie unterstützen die Bewegung. Doch ihre politischen Forderungen tendieren teilweise sehr weit nach rechts …
Man kann nicht erwarten, dass eine soziale Bewegung bereits zu Beginn vollkommen ist. Politik besteht ja gerade darin, aus der Bewegung etwas zu konstruieren – Menschen wandeln sich. Die 68er-Bewegung etwa hat aus vielen Frauen erst Feministinnen gemacht oder aus rassistisch eingestellten Arbeitern Internationalisten. Im Kern sind die Gilets jaunes eine linke Bewegung: Die Leute fordern nicht die Abschaffung des Parlamentarismus, sie wollen essen und sich fortbewegen. Das ist ein linkes Problem.

Dass etliche der Gilets jaunes mit dem rechtsextremen Rassemblement National sympathisieren und viele rassistische Sprüche zu hören sind, ändert nichts an Ihrer Haltung?
Überhaupt nicht. Ich glaube, dass noch nicht klar ist, wohin diese Bewegung unterwegs ist. Die Frage, wer den ideellen Kampf um diese Leute gewinnt, ist offen. Ich bin mit andern am Samstag mit Eisenbahnern und Studenten mitmarschiert, und wir haben sie darauf aufmerksam gemacht, dass die arabischstämmigen und schwarzen Jugendlichen in den Arbeitervierteln noch viel stärker unter sozialem Ausschluss und Arbeitslosigkeit leiden. Wir versuchen, die Bewegung in eine progressive Richtung zu lenken. Ja, es gibt auch Leute, die sie in eine rechte oder gar rechtsextreme Richtung zu ziehen versuchen, es herrscht ein Deutungskampf um die Bewegung. Wenn Sie die Bewegung jedoch von vornherein als rechts definieren, nehmen Sie sich die Chance, etwas Progressives daraus zu machen.

Warum aber tendiert ein Protest, der sich an der Armut entzündet, von Anfang an so stark nach rechts?
Seit dreissig Jahren ist das linke Denken auf dem Rückzug, die Beziehungen der Linken zu den Arbeiterquartieren wurden zerstört. In den Medien dominieren Diskurse über Migration als wirtschaftliches Problem. Wenn Leute in Wut geraten, übernehmen sie spontan eine bestimmte Art, Dinge zu sehen, die oft auch rassistisch, sexistisch, homophob oder islamfeindlich ist. Doch nochmals: Politik besteht darin, die Bewegung umzuwandeln, ihr eine andere Bedeutung zu geben. Die Rolle der Linken ist es, die Bewegung zu umarmen, eine Verbindung zu ihr herzustellen und sie ins progressive Lager zu holen.

Viele sagen, Macron sei auch insofern selber schuld an der Situation, als er seit zwei Jahren Gewerkschaften und andere vermittelnde Institutionen ignoriere. Nun habe er eine Bewegung gänzlich ohne Repräsentanten heraufbeschworen.
Ja, diese Leute sind nicht traditionell organisiert. Sie respektieren die Regeln nicht, weigern sich etwa, den Innenminister zu treffen – jede Gewerkschaft wäre hingegangen, um einen Deal abzuschliessen. Das politische Spiel wird so destabilisiert. Doch ich glaube nicht, dass Macrons Problem darin besteht, dass die institutionellen Wege nicht funktionieren. Es ist ein sozioökonomisches Problem, es geht um die Verteilung des Reichtums. Macrons Problem besteht darin, dass er seit zwei Jahren wirtschaftliche Massnahmen ergreift, die sogar von bürgerlichen Politikern verurteilt werden, etwa die Abschaffung der Vermögenssteuern für Reiche.

Was muss in Ihren Augen das Ziel der Proteste sein?
Es kann sein, dass die Bewegung nicht nur zu einer Reform der Benzinsteuer führt, sondern auch Macron stürzt. Wie gesagt steht die Steuer für eine viel grössere ökonomische Frage. Man sollte nun verhindern, dass Macron das Ganze mit einer Reform löst.

Sie wollen Macrons Sturz? Die Linke liegt in Frankreich am Boden, auf ihn würde eher eine noch rechtere Regierung der konservativen Republikaner, wenn nicht gar des Rassemblement National folgen.
Es ist schwer, sich einen rechteren Präsidenten vorzustellen als Macron. Selbst die Republikaner haben gesagt, dass er in Sachen Steuern zu weit gehe. Macron wird ausserhalb Frankreichs zu links verortet. Ich bin bei weitem nicht mit allem einverstanden, was Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise sagt, doch er steht für eine intellektuelle Linke, die mit den sozialen Bewegungen in Verbindung steht. Er steht für die Möglichkeit eines linken Sieges.

Glauben Sie, dass die gewalttätigen Ausschreitungen vom Samstag der Popularität der Bewegung schaden werden?
Nein, das legen auch die Zustimmungswerte in den Umfragen nahe. Ich glaube zudem, dass die Gewalt, die sich gezeigt hat, keine Entgleisung ist, sondern sehr bewusst eingesetzt wird. Die Geschichte Frankreichs zeigt, dass der zentralistische Staat nur nachgibt, wenn es zu Gewalt kommt. Das war im Mai 68 so oder auch bei den Krawallen in den Banlieues von 2005, auf die Investitionen in Schulen, Bibliotheken oder Schwimmbäder folgten.

Sozialphilosoph aus Paris

Geoffroy de Lagasnerie (36) ist Professor für Philosophie an der Kunsthochschule in Paris-Cergy und ist vor allem zusammen mit dem Schriftsteller Édouard Louis und dem Soziologen Didier Eribon in den letzten Jahren immer wieder laut gegen wirtschaftliche Ungleichheit, die Abschottung gegenüber MigrantInnen oder für die Rechte von Homosexuellen eingetreten.

De Lagasnerie ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien von ihm auf Deutsch: «Denken in einer schlechten Welt» (Matthes & Seitz Berlin). Darin fordert er die Wissenschaften angesichts des weltweit aufstrebenden Nationalismus dazu auf, ihre angebliche Wertefreiheit infrage zu stellen.