Essay: «Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt – und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft»

Nr. 23 –

Die Geschichtswissenschaft ist in Zeiten der ideologischen Polarisierung zum Kampfplatz geworden. Revisionistische Tendenzen zeigen sich nicht nur in der jüngst publizierten Biografie des Bundesrats Philipp Etter. Doch es gibt auch viele Lichtblicke.

Welche Vergangenheit liegt hinter diesem Tor? Beim Eingang zur unterirdischen Führungsanlage Schweizerhof der Geheimarmee P-26 in Gstaad. Foto: Florian Bachmann

Geschichtsschreibung war noch nie unschuldig. Mit dem Aufkommen rechtsnationaler und rechtsextremer Parteien und der Renationalisierung der Politik im Weltmassstab ist sie verstärkt zum ideologischen Kampfplatz geworden. Unterschiedliche politische Strömungen nutzen sie als Medium kollektiver Sinnstiftung. Wer über historische Lufthoheit verfügt, sagt, wo es künftig langgeht.

Politische Kräfte, die einer mythologischen Geschichtskonzeption verhaftet sind, fordern in aller Regel die Befestigung nationaler Grenzen. Die Schweiz liegt im Trend. Auch hierzulande wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt, und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft. 2015 trat SVP-Nationalrat und Historiker Peter Keller gegen die manchmal etwas trockene wissenschaftliche Forschung mit dem Spruch an: «Wir haben die saftigeren Geschichten.» Die Schweizer Geschichte wird zum Parteiprogramm. Sie handelt von der Abwehr fremder Richter, von alteidgenössischem Opfermut und der nationalsouveränen Selbstbehauptung eines stets bedrohten Landes.

Nach der Maxime «Right or wrong – my country!» verändert sich insbesondere die Deutung des Zweiten Weltkriegs, der nach wie vor zentraler Referenzpunkt erinnerungspolitischer Dispute ist. In Ungarn und Polen entlassen autoritäre Regierungen wissenschaftlich renommierte MuseumsleiterInnen, bauen Denkmäler um und konvertieren Nazikollaborateure in gute Patrioten. Die antisemitisch orchestrierte Vertreibung der Central European University aus Budapest passt dazu. Auch in Westeuropa konkretisieren sich solche Tendenzen. 2005 beschloss die französische Nationalversammlung, dass fortan allen Schulkindern die «positiven Seiten» des Kolonialismus unterrichtet werden müssten – schliesslich soll die «Grande Nation» stolz sein dürfen auf ihre zivilisatorische Mission.

Diese Umdeutungsversuche lassen sich unter dem Stichwort «Revisionismus» zusammenfassen. Allerdings ist dieser Begriff im transatlantischen Vergleich politisch gegensätzlich aufgeladen. In den USA kommen «revisionistische» Interventionen von links. Hier geht es um die Zurückweisung der grossen Erzählung von den USA als dem auserwählten Land, in dem seit der Staatsgründung im 18. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit und Wohlergehen für immer mehr Menschen erstritten wurden. KritikerInnen dieser Fortschrittsperspektive schlagen ein alternatives «Framing» vor, in dem Unterdrückung und Ausbeutung die Hauptrolle spielen. Im Brennpunkt der Debatte steht der Zusammenhang zwischen Sklaverei und Kapitalismus. Das Plantagensystem der SklavenhalterInnen wird somit nicht mehr klar abgegrenzt vom aufstrebenden, auf «freier» Lohnarbeit basierenden Industriekapitalismus, was auch die Zäsur der SklavInnenbefreiung von 1865 relativiert. «Revisionistische» HistorikerInnen betonen demgegenüber, basierend auf neuen Forschungen, dass der «Manchesterkapitalismus» und die «Mississippisklaverei» als zusammenhängendes System funktionierten und dass sich an der rassistischen Matrix der amerikanischen Geschichte seither wenig geändert habe.

Im deutschen Sprachraum wird mit «Revisionismus» etwas völlig anderes assoziiert. Zuerst fallen einem die HolocaustleugnerInnen ein, die mit menschenrechtsverachtenden, antijüdischen Anwürfen auf sich aufmerksam machen. In Italien geht es um den Personenkult um den faschistischen «Duce» Benito Mussolini; revisionistische NeofaschistInnen errichteten 2012 für den Kriegsverbrecher Rodolfo Graziani, der in Äthiopien und in Libyen Massaker und Giftgaseinsätze verantwortete, ein Mausoleum. In vielen Ländern sind solche Strömungen, die Nationalsozialismus und Faschismus verherrlichen oder aber verharmlosen, präsent, und die Gefahr von rechts bleibt akut.

Doch inzwischen hat sich die Diskussion verschoben. Es ist ein Revisionismus im Aufwind, der die Verbrechen des Nationalsozialismus zwar nicht mehr rundweg bestreitet, sie aber als unbedeutende Episoden darstellt und die Verbrechen kleinredet. So verhöhnt der Rechtsextremist Björn Höcke von der Alternative für Deutschland die «dämliche Bewältigungspolitik», die «die deutsche Geschichte mies und lächerlich» mache, und fordert «eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad».

Das Problem spitzte sich in der Europäischen Union dermassen zu, dass das EU-Parlament im Herbst 2019 eine Resolution «zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas» verabschiedete. Dabei zeigte es erst die Zähne, erschrak dann aber über die eigene Courage. Ohne Umschweife hält der Text zunächst fest, «dass in einigen EU-Mitgliedstaaten Geschichtsrevisionismus betrieben wird und Personen verherrlicht werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten». Das Europäische Parlament sei «bestürzt über (…) die Rückkehr von Faschismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit» und kritisiert, dass einige Regierungen (gemeint sind vor allem osteuropäische Mitgliedstaaten) solche Tendenzen auch noch unterstützen. Auch Russland wird aufs Korn genommen, weil dessen Regierung versuche, «historische Tatsachen zu verfälschen» und die von der ehemaligen Sowjetunion «begangenen Verbrechen schönzufärben».

So weit, so gut. Um Länder wie Ungarn und Polen zu beschwichtigen, wird dann aber im Resolutionstext die Ursache des Zweiten Weltkriegs faktenfrei symmetrisiert. Der Krieg sei «eine unmittelbare Folge des Hitler-Stalin-Pakts zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion» gewesen. Beide totalitären Regimes hätten mit dem Ziel der Welteroberung Europa in zwei Einflussbereiche aufteilen wollen. Kein Wort darüber, dass es das nationalsozialistische Regime war, das diesen Krieg von langer Hand geplant hatte. Kein Wort über den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion zur Niederringung der Wehrmacht. Die historische Wahrheit wird mit dem Ziel, politische Spannungen zu glätten, zurechtgebogen. Dem Geschichtsrevisionisten Wladimir Putin bietet sich somit die Gelegenheit, die Vorwürfe, er führe einen Informationskrieg zur Spaltung Europas, mit dem Hinweis zu kontern, die EU stecke selbst tief im geschichtsrevisionistischen Sumpf.

Auch in der Schweiz ist der Zweite Weltkrieg noch immer Kristallisationspunkt geschichtspolitischer Kontroversen. Es ist ein Markenzeichen der hiesigen nationalen Rechten, dass sie sich nach 1945 vom Nationalsozialismus abgrenzte und ihren Einsatz für das, was sie unter Demokratie verstand, primär als Antikommunismus ausagierte. Etliche ehemalige rechtsextreme Frontisten tauchten in der Nachkriegszeit als senkrechte Eidgenossen wieder auf. Alle wollten sie damals im «Widerstand» gewesen sein – und wem das Gegenteil nachgewiesen werden konnte, der forderte ein «Recht auf Vergessen» ein.

Versuche einer solchen Geschichtsverdrängung und der Umdeutung individueller Lebenswege gibt es bis heute. Exemplarisch dafür steht die kürzlich vorgelegte (und in der WOZ Nr. 20/20 von Josef Lang besprochene) Biografie von Thomas Zaugg über Bundesrat Philipp Etter. «Étternell» war zwischen 1934 und 1959 rekordlang im Amt, vorher wirkte er ab 1918 als katholisch-konservativer Kantonsrat und ab 1922 als Regierungsrat des Kantons Zug. Es ist bekannt, dass Zug nach dem Ersten Weltkrieg eine Pionierrolle bei der europaweiten Anlockung von Fluchtkapital und der fiskalischen Privilegierung von Holding- und Domizilgesellschaften spielte – mit Auswirkungen während des Zweiten Weltkriegs und bis heute (Stichworte: Crypto und Glencore). Doch wie vertrugen sich die Zürcher Finanzplatzanwälte, die dieses Steuerparadies am Zugersee mitgestalteten, mit dem Milieukatholizismus, wie er durch Etter repräsentiert wurde? Zaugg charakterisiert Etter als «einen der prägendsten Politiker seines Kantons», verliert aber über diese Entwicklung kein einziges Wort. Er erwähnt zwar die ettersche Kritik am «Zuzug von Gesellschaften», verwechselt aber Finanzholdings mit Industriebetrieben.

Umso detaillierter fällt die durchgängige Rechtfertigung Etters zwischen 1933 und 1942 aus. Dass der Rhetoriker der «geistigen Landesverteidigung» den Rassenwahn der NationalsozialistInnen ablehnte, ist längst bekannt. Nichtsdestotrotz weisen seine Appelle stark «völkische Züge» auf, nach Zaugg allerdings nur «mitunter im Ausdruck, aber selten in der Substanz». Etter hatte sich bei vielen ZeitgenossInnen den «Ruf als Anpasser» erworben. Zaugg will das korrigieren und entwickelt einen empathischen Zugang zur Persönlichkeit dieses Bundesrats, in dem sich Verstehen und Verwischen auf prekäre Weise vermischen. Mit der Auswertung von Briefen kann Zaugg zeigen, dass Etter nicht einfach das Sprachrohr des antidemokratischen Aristokraten Gonzague de Reynold war. Doch der Differenzierungswille kippt in Rechtfertigung, weil mithilfe privater und schon früher respektive erst später gemachter Bemerkungen signifikante politische Handlungen unkenntlich gemacht werden. Wer quellenbasiert feststellt, Etter habe 1933 zur Liquidierung von Sozialismus und Liberalismus aufgerufen, 1935 eine faschistisch inspirierte Totalrevision der Bundesverfassung unterstützt und 1940 erneut eine Totalrevision mit «starker Führungsgewalt» angestrebt, hat nach Zaugg nicht recht. Denn das soll entweder taktisch gemeint oder anders intendiert gewesen sein. So zeichnet Zaugg das Bild eines vielfach überforderten, von Zweifeln und Unsicherheiten geplagten Magistraten, dem man unrecht tut, wenn man ihn zur Verantwortung zieht.

An Verharmlosung kaum zu überbieten ist die Schilderung der «Ostfrontmission» von Eugen Bircher im Jahr 1941. Es sei bei dieser von Etter unterstützten Mission darum gegangen, «mit IKRK-Helfern deutsche Verwundete (zu) behandeln». Das klingt nach humanitärer Hilfe, und Zaugg spricht von «guten Diensten». Kein Wort davon, dass Bircher die Crew mit Hakenkreuzbinden ausrüsten und sie in den rassistisch-antisemitischen Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht integrieren liess. Kein Hinweis darauf, dass die Teilnehmer der Mission die Gräuel gegen die russische und jüdische Zivilbevölkerung mit ansehen mussten und dass ein Chirurg, der nach der Rückkehr darüber berichten wollte, behördlich massiv drangsaliert wurde. Zaugg erwähnt nur, es sei auch darum gegangen, «auf den Marktzugang (…) zu den eroberten Gebieten hinzuwirken».

Zauggs revisionistische Umdeutung Etters ist einem nationalen Tunnelblick verpflichtet. Das schweizerische «Souveränitätsproblem» bleibt in der Zeit des Nationalsozialismus ähnlich wie jenes von 1914. Der völlig unterschiedliche Charakter der Bedrohung verschwindet im helvetischen Binnenraum.

Dasselbe Containermodell der Nationalgeschichte findet sich auch in Titus Meiers Studie über «Widerstandsvorbereitungen im Besetzungsfall» aus dem Jahr 2018. Sie ist der Geheimorganisation P-26 gewidmet, die 1990 im Zuge der Fichenaffäre aufflog und die von der bürgerlich dominierten Parlamentarischen Untersuchungskommission als «potenzielle Gefahr für die verfassungsmässige Ordnung» qualifiziert wurde. Die P-26 bestand aus 400 BürgerInnen, unterteilt in über 80  Zellen, und verfügte über ein eigenes Waffenarsenal (Maschinenpistolen, Präzisionsgewehre, Hohlpanzergranaten, Sprengstoff und so weiter).

Nach ihrer Auflösung war das öffentliche Bild von der P-26 schlecht. Ihr Gründer war Albert Bachmann, ein etwas paranoider Kalter Krieger. Er verfasste das unsägliche «Zivilverteidigungsbuch» von 1969, das linke Protestbewegungen und Intellektuelle unter pauschalen Subversionsverdacht stellte. Das Geleitwort für das in einer Auflage von 2,4 Millionen an Schweizer Haushalte verteilte Pamphlet schrieb Bundesrat Ludwig von Moos. Ein Jahr darauf enthüllte die Zeitschrift «neutralität», dass von Moos in den dreissiger Jahren für seine Zeitung frontistisch-antisemitische Elaborate akquiriert hatte, was hohe Wogen schlug. Bachmann begann ab 1976, einen schon bestehenden «Spezialdienst» in die P-26 umzuformen, und setzte dabei auf intensive Zusammenarbeit mit der Bundesanwaltschaft, die gerade dabei war, ihren monströsen Bespitzelungsapparat auszubauen.

Bei Titus Meier sieht das nun ganz anders aus. Er stilisiert die P-26-Mitglieder zu stillen Helden, während eine Ständerätin wie Esther Bührer, die 1990 kritisch nachfragte, als «Extremfall in ihren Ansichten» abgekanzelt wird. Statt von fehlenden gesetzlichen Grundlagen lesen wir nun von «absoluter Verfassungsmässigkeit» (was der Bundesrat damals als Entlastungsargument brachte) und einem «konstruierten Skandal» (hinter dem die wegen der Bespitzelung gekränkten Journalisten stecken).

Dieser revisionistische Dreh wird möglich, weil die P-26 neu mit dem Glorienschein des schweizerischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg nobilitiert wird. Meier führt die P-26 vor allem auf die Aktion Nationaler Widerstand zurück, die 1940 unter massgeblicher Beteiligung linker AntifaschistInnen gegründet worden war. Die Gewerkschaftsaktivisten und Nazigegnerinnen, die der Autor zur Illustration auftreten lässt, würden sich im Grabe umdrehen, könnten sie sehen, dass sie nun für eine Organisation eingespannt werden, für deren Hauptpromotor Bachmann fast jedes demokratische Engagement von links ein Fall für den Staatsschutz war.

Im Unterschied zu Ländern wie Polen und Ungarn, wo der Geschichtsrevisionismus mit der Staatsmacht paktiert und zu einer ernsthaften Gefahr für die historische Wissenschaft geworden ist, ist die Lage in der Schweiz entspannt. Dass Dissertationen wie die besprochenen unter dem Radar des Forschungsstands durchfliegen und akademische Qualifikationsziele erreichen, ist zwar irritierend. Doch insgesamt ist die Forschungslandschaft durch eine produktive Verbindung von fachlicher Kompetenz und Neugierde geprägt. In enger Auseinandersetzung mit öffentlichen Debatten werden laufend neue Themen und Quellenbestände einer transnationalen Geschichte der Schweiz erschlossen, eingebettet in eine globalisierte Theoriediskussion.

Mittlerweile liegen horizontöffnende Studien zur helvetischen Steueroase, zum Transithandel, zur postkolonialen Schweiz und zur Migrationsgeschichte vor. Anknüpfend an bisherige Forschungsarbeiten werden auch Unternehmen, Waffenproduktion und Zivilschutz, soziale Bewegungen sowie eine ganze Reihe von kultur-, geschlechter- und wissensgeschichtlich interessanten Themen untersucht. Dabei sind die Grenzen zwischen akademischer und Amateurforschung durchlässig. So legten drei Journalisten vergangenes Jahr eine ausgezeichnet recherchierte Studie zu den «Schweizer KZ-Häftlingen» vor. Gleichzeitig veröffentlichte das breit angelegte Forschungsprojekt der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgungen» seinen Schlussbericht. Erst am Anfang steht die Untersuchung der Mensch-Natur-Beziehungen (Stichwort: «Anthropozän»), die das bisherige Verständnis historischer Prozesse herausfordert.

Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Durchweg zeigt sich, dass die soziale Ungleichheit, die ideologische Polarisierung und die Anfechtungen von Menschenrechten, die die Entwicklung der Gegenwartsgesellschaften prägen, zu einer verstärkten Politisierung der Geschichtsschreibung führten. Während der rechte Revisionismus alte Fragen in einem nationalen Interpretationsrahmen reproduziert, drückt sich in den neuen Forschungsansätzen das Recht einer jeden Generation aus, neue Fragen an die Vergangenheit zu stellen. So wird nicht nur der historische Wissensstand erweitert, sondern im medialen Resonanzraum das öffentlichkeitswirksame Geschichtsbild als Ganzes verändert.

Jakob Tanner (69) ist emeritierter Professor für die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich. Tanner war Mitglied der Unabhängigen ExpertInnenkommission zur Untersuchung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zuletzt erschien von ihm die «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» (Beck, München, 2015).