Ein Gespräch mit Rapper Nativ: «Diese Revolution beginnt in unseren Köpfen»

Nr. 25 –

Nativ ist das Gesicht der Schweizer Rapszene. Auch weil er Themen wie Rassismus und Zugehörigkeit längst mit einem positiven Selbstbewusstsein behandelt. Er fordert die Schweiz auf, ihr Selbstbild upzudaten.

«Diese Denkmäler gehören weg aus den Städten und rein in die Museen»: Nativ vor dem Zürcher Hauptbahnhof.

WOZ: Nativ, an den Antirassismusdemos in Bern wie auch in Zürich gab es Schilder zu sehen, auf denen Zitate aus Songs von dir zu lesen waren. Eines davon: «Hüt isch ä guetä Tag für ne Change».
Nativ: Ich habe mich sehr darüber gefreut. Eine wichtige Komponente dieser Bewegung, die jetzt auch in der Schweiz angekommen ist, ist eben die, dass dir der Rassismus psychologisch immer wieder sagt, dass du nicht nur anders und minderwertig – sondern eben auch in Unterzahl und allein bist. Die aktuelle Bewegung gibt allen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, endlich ein Zuhause. Das gibt auch mir viel Energie, und ich bin einfach glücklich, ein Teil von etwas Grossem zu sein und zusammen mit anderen Menschen Veränderungen anzustossen.

Am vergangenen Wochenende hat sich die Debatte um Rassismus in der Schweiz weiter zugespitzt. Hast du die «Arena» im Schweizer Fernsehen zum Thema gesehen?
Ich habe es versucht. Nach einer Weile musste ich aber ausschalten. Ich hielt es nicht mehr aus: Diese Sendung war eine Katastrophe (vgl. «Schützen wir die Polizei» ). Für mich als Afroschweizer, mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe: blanker Hohn. Meiner Meinung nach ist das in dieser Form auf einem Staatssender unhaltbar. Die Sendung an sich war ein Gefäss für Rassismus. Und dennoch, auch hier gibt es eine positive Seite: Die Sendung hat vielen Menschen vor Augen geführt, dass wir sehr wohl ein Problem haben. Und dass für dessen Überwindung ein langer Weg vor uns liegt. Zum Glück fanden am nächsten Tag die Demos statt. Ich war an der Kundgebung in Bern. Es war schön zu sehen, wie viele Leute das alles auf die Strasse bringt. Ich fühlte mich, verbunden mit unterschiedlichen Menschen, darin bestärkt, etwas bewegen zu können.

Keine Gefühle von Ohnmacht?
Ich erlebe im Moment alle möglichen Gefühle: Ohnmacht, Unverständnis und Frust, wenn ich mir realistisch anschaue, welche grundlegenden Dinge 2020 noch eingefordert werden müssen und wie ignorant und uneinsichtig Menschen sein können. Der offene Rassismus, der in diesen Tagen noch stärker sichtbar ist als sonst, macht mich auch wütend. Aus dieser Wut aber wird oft ein positives Gefühl: der Drang, die Welt grundlegend verändern zu wollen. Ich bin deswegen voller Hoffnung. Weltweit protestieren gerade Millionen von Menschen gegen Rassismus!

Wie verstehst du deine Rolle innerhalb dieser Bewegung in der Schweiz?
Ich bin Sohn eines schwarzen Vaters und einer weissen Mutter. Aufgrund meiner Biografie, meines Aussehens und meiner Haltungen bin ich schon immer mit diesen Themen in Berührung. Als Musiker sehe ich meine Rolle darin, eine Stimme für die Menschen zu sein, die von Rassismus betroffen sind. Ich habe meine Musik immer als ein Ventil dafür gebraucht, persönliche Erfahrungen zu verarbeiten, zu reflektieren und mit anderen zu teilen. Mein Anspruch war es schon immer, Stimmen, die sonst untergehen, hörbar zu machen. Vielleicht erkennen sich auch deswegen Menschen in meinen Texten, weil ich auch die Erfahrungen anderer Realitäten in meine Texte einfliessen lasse. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass sich die Dinge grundlegend verändern. Jeder Beitrag ist wichtig, ob nun jemand einen Song schreibt, Gespräche mit Menschen in seinem Freundeskreis führt, Plakate gestaltet oder Demos organisiert.

Es scheinen sich in diesen Demos auch unterschiedliche Gruppierungen, Stile und Forderungen zu bündeln. Wie interpretierst du die Demos in der Schweiz?
Ihr Ausgangspunkt ist auch hier die Ermordung George Floyds. Sie hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Aber es ging schon vorher und auch jetzt um mehr als diesen brutalen Mord oder die Situation in den USA. Die Demos solidarisieren sich im Moment einerseits mit der globalen Black-Lives-Matter-Bewegung. Doch egal, in welches Land wir schauen: Die Demos kritisieren immer auch den konkreten Rassismus in den jeweiligen Ländern. Das ist immens wichtig – auch um eine Vision für eine Gesellschaft ohne Rassismus und ohne Benachteiligungen zu entwickeln. Wir sind aber leider erst an diesem Punkt, an dem wir ihn sichtbar machen: mit Demonstrationen, persönlichen Erzählungen, der öffentlichen Benennung von Rassismus und der ehrlichen und öffentlichen Auseinandersetzung damit.

Sind denn diese unterschiedlichen Rassismuserfahrungen, die Menschen in der Schweiz machen, überhaupt unter einen Hut zu bringen?
Ich finde es falsch, Rassismuserfahrungen gegeneinander abzuwägen oder gar auszuspielen. Wir sollten innerhalb dieser Bewegung die Dinge tun, die wir von der Gesellschaft einfordern: uns zuhören, unsere Erfahrungen gegenseitig ernst nehmen – auch damit wir Schlagkraft entwickeln können, um die Gesellschaft langfristig verändern zu können. In dieser Bewegung sind unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Anliegen, aber auch mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissensständen dabei. Wir dürfen auch das nicht gegeneinander verwenden. Im Gegenteil: Das funktioniert alles nebeneinander. Ich bin davon überzeugt, dass es ein gemeinsames Ziel gibt. Vom Gefühl her ist das eine Gesellschaft, die niemanden benachteiligt und möglichst vielen die Chance bietet, ein gutes Leben zu führen. Mir ist klar: Das wird ein langer Weg. Umso wichtiger ist es, dass wir uns nicht selbst im Weg stehen, sondern uns gegenseitig helfen. Ich bin bereit dazu – und ich bin bereit dazuzulernen.

Erkennst du schon konkrete Forderungen der Bewegung in der Schweiz?
Diese Bewegung ist im Moment noch sehr intuitiv, sie formiert sich erst. Und das ist auch legitim. Ich spreche für mich, wenn ich sage: Wir müssen unsere Asyl- und Flüchtlingspolitik überdenken, wir müssen darüber sprechen, was Alltagsrassismus für alle Nichtweissen in diesem Land bedeutet, weshalb es Racial Profiling gibt, warum es so wenige People of Color in den Medien und in der Politik gibt. Es wäre eigentlich auch die Aufgabe der Politik, Forderungen aus dieser Bewegung herauszuhören, sie in die politischen Diskurse, in die Medien und die Parlamente zu tragen. Wir müssen den Druck auf der Strasse, in den sozialen Medien und im Alltag hoch halten. Aber es muss uns auch klar sein, dass wir beständig sein müssen und das Ganze dauern wird. So war es in allen sozialen Bewegungen. Die Rechte, die wir jetzt haben, die Demokratie, die Sozialversicherungen, das Frauenstimmrecht – das alles ist nicht vom Himmel gefallen. Menschen haben sich das gemeinsam erkämpft.

Was denkst du, warum ist der Rassismus in diesem Land noch immer so virulent?
Wir alle wissen, dass es ihn gibt, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Der Grund ist ein falsches Selbstbild. Bevor wir konkrete Änderungen umsetzen können, müssen wir diese Grunderzählung richtig benennen. Wir müssen also bei der Bildung ansetzen: In den Schulen ist die Kolonialzeit nur eine Randnotiz, mir wurde nicht viel erzählt von Belgisch-Kongo, von den Sklavenaufständen in Haiti, von den Beziehungen der Schweiz zu den Kolonialmächten oder dem Verhältnis dieses Landes zum nationalsozialistischen Deutschland. Und das sind nur mal einige Beispiele. Es geht aber nicht nur um das, was in der Vergangenheit passiert ist. Wir müssen uns auch mit dem Hier und Jetzt auseinandersetzen. Sind wir wirklich neutral, wenn wir zulassen, dass seit dem Jahr 2000 35 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind? Dass die Schweiz für den ausbeuterischen globalen Rohstoffhandel eine Drehscheibe ist – und eines der Zentren des Finanzkapitalismus? Ein Land auch, das sich viel zu wenig für Menschenrechte und Gleichberechtigung interessiert? Wenn wir diese Systematiken radikal hinterfragen, werden wir eine neue Grunderzählung etablieren müssen. Diese Auseinandersetzung wird für alle Beteiligten schmerzhaft sein, aber es ist höchste Zeit, in den Spiegel zu schauen. Die Demos fordern eine ehrliche Auseinandersetzung mit der jahrhundertealten wirtschaftlichen Ausbeutung ganzer Völker – und dem damit verbundenen Rassismus. Insbesondere der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents stellt sich die Schweizer Gesellschaft noch immer nicht.

Was hältst du davon, dass an verschiedensten Orten der Welt Denkmäler und Statuen demontiert werden, die diese rassistische Grunderzählung repräsentieren?
Ich finde es bedenklich, dass diese Demontage durch die Demonstranten gemacht werden muss. Ich bin kein Freund von Gewalt. Aber diese Art von direkter Aktion kann ich wirklich verstehen. Meines Erachtens müssten diese Denkmäler von den lokalen Regierungen demontiert werden. Das wäre ein Zeichen von Einsicht: Dinge wurden falsch gemacht, wir müssen sie aufarbeiten, richtig erzählen. Und selbstverständlich geht es mir dabei nicht darum, dass die Geschichten, für die diese Denkmäler stehen, aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen werden. Im Moment stehen Kolonialisten, Kriegsherren und Kapitalisten in den Zentren der Städte auf einem Sockel. Sie gehören weg – ins Museum.

Es gibt Stimmen, die sagen, diese Bewegung sei ein Hype und werde bald wieder verschwinden …
Diese Menschen unterschätzen diese Bewegung. Sie hat das Potenzial, Grundsätzliches zu verändern. Ich sagte in einem Interview vor einigen Wochen, dass ich hoffe, dass der Geist dieser Bewegung etwas Bleibendes hat – inzwischen bin ich davon überzeugt. Es passiert vieles auf so vielen Ebenen. Das wird Nachwirkungen haben. Die Dinge werden nicht mehr so sein wie vorher. In der Frauenbewegung, in der Klimajugend und jetzt auch in der antirassistischen Bewegung wächst eine Generation von jungen Menschen heran, die meines Erachtens bereit sind, auf Karriere, Geld und persönliche Macht zu verzichten. Diese Generation beginnt zu verstehen, dass das alles der Grund des Übels ist. Unser Ego ist die Antriebsfeder dafür, uns selbst und andere Menschen auszubeuten. Wir müssen damit beginnen, uns selbst zu revolutionieren, um in etwas Grösserem aufzugehen. Diese Revolution beginnt in unseren Köpfen.

Was bedeutet das konkret?
Rassismus zwingt dich oft in eine Opferhaltung, weil du erniedrigt und ausgegrenzt wirst. Ich verstehe alle, die ihre Geschichten erzählen und mit anderen teilen wollen. Ich finde das wichtig und richtig. Wir müssen uns aber auch darauf konzentrieren, eine neue Erzählung zu etablieren. Ich glaube wirklich daran, dass sehr vieles anders sein kann. Wir müssen ein neues Selbstbewusstsein entwickeln und uns selbst lieben – nicht nur im spirituellen, sondern auch im politischen Sinn.

«Jetzt gilt es den Druck auf der Strasse, in den sozialen Medien und im Alltag hoch zu halten.»

WOZ-Social-Media-Redaktor Ugur Gültekin war selbst viele Jahre als Rapper und später als Journalist in der Hip-Hop-Szene unterwegs. Nativ und er kennen sich seit Jahren. Die beiden stehen sich persönlich nahe und duzen sich deswegen auch in diesem Gespräch.

Nativ

Der Rapper Nativ (27) heisst bürgerlich Thierry Gnahoré und lebt in Biel. Seine Mutter ist gebürtige Schweizerin, sein Vater stammt aus Côte d’Ivoire. Nativ gilt in der Schweizer Rapszene als einer der relevantesten Künstler und wurde vom Szenemagazin «Lyrics» 2019 zum besten Schweizer Rapper aller Zeiten gekürt. Als Solokünstler hat er bis heute vier Alben und unzählige Singles veröffentlicht. Zusammen mit dem Bieler Rapper Buds Penseur bildet er das Duo Psycho’n’Odds.