«Was, so etwas finde ich geil?» Sie sieht den Pornokonsum pragmatisch als Praxis in einer Parallelwelt, die mit der Realität nicht viel gemein haben muss. Die grösste Gefahr ist gemäss der Sexualtherapeutin Ursina Brun del Re, dabei das Gefühl für den eigenen Körper zu verlieren.

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  • «Get Physical» des Künstlerinnenkollektivs Mickry 3
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Ursina Brun del Re. Foto: Beda Brun del Re

WOZ: Frau Brun del Re, wie oft haben Sie mit Pornos zu tun?
Ursina Brun del Re: Täglich, als Therapeutin in meiner Praxis und als Forscherin an der Uni. Für meine Doktorarbeit habe ich den Einfluss von Pornos auf die Sexualität von Paaren untersucht.

Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Den Anstoss dazu gab die tägliche Arbeit in meiner Praxis, wo ich gemerkt habe, dass Pornos für Paare ein riesiges Thema sind. Es melden sich zum Beispiel fast täglich Frauen bei mir und sagen: «Oh Gott, ich habe meinen Partner beim Pornoschauen erwischt, ich fühle mich betrogen.» Das Thema ist für viele Paare ein Tabu, und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Wie gehen Sie als Therapeutin damit um?
Das ist es ja: In der Fachliteratur gibt es zu fast jedem Thema Empfehlungen, wie man in der Therapie vorgehen soll – zu Pornos gibt es nichts. Der Einfluss von Pornos auf Jugendliche ist gut erforscht, von solchen Studien hören wir auch ständig in den Medien. Aber zu Erwachsenen und insbesondere zu Paaren gibt es kaum Forschung. Also dachte ich, dann erforsche ich das halt selber. Meine Motivation ist, eine Grundlage für meine therapeutische Arbeit zu erarbeiten.

Wie erklären Sie sich die Lücke in der Forschung?
Bei Erwachsenen scheint man davon auszugehen, dass sie selber einen Umgang mit Pornos finden. Aber Pornokonsum ist generell immer noch ein Tabu. Dabei ist dieser heute für die meisten eine Realität: Mehr als neunzig Prozent der Männer und achtzig Prozent der Frauen schauen Pornos. Statt diese zu verteufeln, müssen wir uns doch überlegen, wie wir damit umgehen wollen. Wir müssen unbedingt mehr über Pornos reden!

Sind Pornos wirklich noch ein Tabu?
Es ist besser geworden, aber über Sex zu sprechen, vor allem über eigene Probleme, fällt vielen noch immer nicht leicht. Die Solosexualität, zu der Pornokonsum meistens gehört, ist noch eine zusätzliche Hürde. Die Masturbation gehört für viele in eine Welt, die sie für sich alleine haben möchten, die sie oft als düster wahrnehmen und mit der sie Schuldgefühle verbinden. Viele sind auch verunsichert, in welcher Sprache sie über Pornos sprechen sollen, sie fühlen sich zum Beispiel nicht wohl dabei, Wörter wie «Cumshot» oder «Milf» zu verwenden, die auf Mainstreampornoseiten zu finden sind.

Was geschieht, wenn Paare nicht über Pornos sprechen?
Nehmen wir das erwähnte Beispiel der Frau, die ihren Mann erwischt hat. Wenn der Mann seinen Konsum vor ihr versteckt und sich in eine Parallelwelt zurückzieht, verstehe ich, dass die Frau sich dann betrogen fühlt.

Das weckt bei vielen Frauen auch Ängste, dass er sie oder den gemeinsamen Sex nicht mehr spannend findet. Er wiederum hat ein schlechtes Gewissen. Oft wären Pornos aber gar kein Problem, wenn man darüber reden würde.

Ist es so einfach?
In solchen Fällen hole ich immer beide Partner zu mir in die Praxis. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein solches Gespräch nicht gut herausgekommen wäre. Er erklärt ihr dann zum Beispiel, dass er sie gar nicht mit den Darstellerinnen vergleicht oder dass er gar nicht alles machen will, was er sich in Pornos anschaut.

Fällt es beiden Geschlechtern gleich schwer, über Pornos zu sprechen?
Frauen sprechen immer noch seltener darüber. Und die Männer, wenn sie es tun, meistens oberflächlich, so im Stil von: «Gestern habe ich mir noch einen runtergeholt.» Ein Gespräch über Probleme mit dem eigenen Konsum hat hingegen eine ganz andere Qualität. Dabei hat eine aktuelle Studie ergeben, dass ein Drittel der Männer lieber weniger Pornos schauen würde. Was nicht heisst, dass die alle pornosüchtig sind. Mir scheint diese Zahl aber extrem hoch.

Und die Frauen?
In meiner Studie haben sich starke Unterschiede zwischen den Geschlechtern gezeigt. Frauen schauen zwar weniger häufig Pornos, aber wenn sie es tun, haben sie eine viel positivere Einstellung dazu.

Welche Rolle spielt die Einstellung?
Diese spielt eine entscheidende Rolle, das ist meine wichtigste Erkenntnis: Je negativer nämlich die Einstellung zum eigenen Konsum ist, desto negativer ist auch der Einfluss auf die gefühlte Zufriedenheit mit der Sexualität in der Partnerschaft. Das heisst, wenn jemand ein schlechtes Gewissen hat, weil er oder sie zu viele Pornos schaut, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass auch der Sex darunter leidet. Mit den Pornos ist es ähnlich wie früher mit der Masturbation: Wenn ein Konsens herrscht, dass man es eigentlich nicht tun sollte, fühlt man sich schlecht dabei.

Was geschieht, wenn Paare über Pornos reden?
Was ich aufgrund der Arbeit in meiner Praxis vermutet hatte, hat sich auch in meiner Befragung gezeigt: Paare, die auch mal gemeinsam Pornos schauen, pflegen eine intensivere sexuelle Kommunikation, das heisst, sie reden eher über sexuelle Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen. Darum empfehle ich Paaren, die zu mir kommen, gemeinsam einen Porno zu schauen. Wenn sie dann vor dieser Szene sitzen, müssen sie darüber reden.

Was kann man in einem solchen Gespräch herausfinden?
Zum Beispiel, aus welchen Gründen man Pornos schaut: Dienen sie nur als Mittel zur Erregungssteigerung, um schneller zum Orgasmus zu kommen? Findet das alles nur im Kopf statt, oder wird ein Wunsch oder ein Fetisch immer dringlicher, je mehr Szenen man dazu sehen will?

Es geht also auch darum, etwas über die eigene Sexualität zu erfahren?
Dieser Aspekt ist sehr wichtig. Viele Männer und auch Frauen schildern mir den Moment nach dem Orgasmus, wenn die Erregungskurve absackt und auf dem Bildschirm der Porno weiterläuft. Oft denken sie dann: «Was, so etwas finde ich geil? Ist das nicht abartig?» Und sie verurteilen sich dafür. Da ist es wichtig aufzuklären: Pornos sind zuerst einmal ein Mittel zur Erregungssteigerung, und es ist klar, dass das Gehirn sich anders verhält, wenn durch die Erregung Hormone ausgeschüttet werden. Aber das heisst noch nicht, dass diese Bilder auch eigenen Fantasien oder Wünschen entsprechen.

Aber lässt sich das denn so leicht trennen? Besteht bei häufigem Konsum von Pornografie nicht die Gefahr, dass die eigenen Fantasien von den pornografischen Bildern verdrängt werden?
Doch, bei häufigem Konsum passiert das automatisch. Pornos lassen nicht viel Raum für Fantasien. Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Buch und schauen dann den Film dazu; da fällt es Ihnen auch nicht leicht, an Ihren eigenen Bildern festzuhalten. Ich empfehle nie völlige Abstinenz von Pornos, aber ich motiviere dazu, bei der Selbstbefriedigung unbedingt auch die eigene Fantasie zu gebrauchen. Bei Männern, die übermässig Pornos konsumieren, kommt es oft vor, dass sie ihre Fantasien erst wieder aufbauen müssen. Bei Frauen besteht diese Gefahr eigentlich nicht.

Wieso nicht?
Bei achtzig Prozent der Männer ist das Visuelle die wichtigste Erregungsquelle, pornografische Bilder passen da natürlich wunderbar. Frauen hingegen reagieren in der Regel auf vielfältigere Quellen, hören vielleicht gerne erotische Geschichten oder werden stärker durch Geschmäcker oder Gerüche erregt. Aber es gibt noch einen anderen interessanten Grund: Viele Frauen erlauben sich erst gar keine Fantasien.

Sie erlauben sich keine Fantasien?
Ja, das ist ein riesiges Thema! Zum Beispiel rede ich immer wieder mit Frauen, die denken, sie dürften beim Masturbieren nicht an andere Männer als ihren Partner denken. Natürlich dürfen sie das, es ist ja nur eine Fantasie!

Für Frauen sind Fantasien also schlimmer als Pornos?
Für die meisten Frauen sind die eigenen Fantasien gefährlicher: Der Porno wurde ja von einer anderen Person gemacht, also sind das auch nicht die eigenen Ideen. Fantasien sind hingegen viel authentischer und anfechtbarer.

In vielen Mainstreampornos werden Frauen erniedrigt. Beeinträchtigen solche Inhalte nicht die positiven Effekte, die Sie beschreiben?
Klar, viele Mainstreampornos decken vor allem männliche Bedürfnisse ab, aber es gibt ja mittlerweile viele Filme von Regisseurinnen oder auch feministische Pornos. Bei Erwachsenen – bei Jugendlichen ist das wieder ein ganz anderes Thema – würde ich den Einfluss von Pornos nicht dramatisieren. Die können in der Regel gut zwischen Porno und Realität unterscheiden. Wenn jemand einen Actionfilm schaut, geht man auch nicht davon aus, dass diese Person auf die Strasse läuft und jemanden erschiesst.

Halten Sie es auch nicht für problematisch, wenn man in Pornos einen Kick sucht, immer extremere Dinge sehen will?
Grundsätzlich finde ich die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen enorm wichtig: Was finde ich noch spannend, was finde ich abstossend? Doch es gibt auch die Gefahr der Abstumpfung, dass man immer stärkere Reize braucht, um noch zum Orgasmus zu kommen. Das gilt aber nicht nur im Zusammenhang mit Pornos: Nach vielen Jahren Sex in der Partnerschaft ist Blümchensex vielleicht auch nicht mehr so aufregend, und man möchte einmal aussergewöhnlichere Dinge ausprobieren.

Was gibt es sonst für Gefahren?
Die grösste Gefahr besteht darin, das Gefühl für den eigenen Körper zu verlieren, weil sich das Bewusstsein nur noch innerhalb der Pornowelt bewegt. Wenn ich meine Patienten frage, was sie eigentlich mit ihrem Körper machen, während sie einen Porno schauen, wissen sie oft gar keine Antwort. Irgendwann wirkt sich das auch negativ auf den Genuss aus: Bei dem standardisierten Ablauf, der mir oft beschrieben wird, hat der Orgasmus ja nicht mehr dieselbe Qualität, wie wenn man sich Zeit dafür lässt. Langjähriger Konsum kann auch zu Erektionsproblemen oder vorzeitigem Samenerguss führen, weil eben das Gefühl für den eigenen Körper abnimmt. Aber das Schöne ist, dass sich das in der Sexualtherapie gut wieder umlernen lässt.

Ist das wieder eine Gefahr, die nur Männer betrifft?
Männer geben öfter an, dass sie Pornos schauen, um Stress abzubauen. Wenn diese Funktion überhandnimmt, kann der Konsum zu einer Flucht werden, vor Beziehungsproblemen zum Beispiel – die Pornowelt ist dafür sehr ergiebig. In der Therapie verwende ich das Wort «Sucht» nicht gern, weil es eine starke Wertung enthält und oft dazu dient, den Konsum zu dramatisieren. Aber natürlich kommt es in wenigen Fällen vor, dass der Konsum in eine Verhaltenssucht mündet.

Geschieht das auch bei Frauen?
Mir sind keine solchen Fälle bekannt. Einerseits, weil Frauen weniger Pornos schauen, andererseits, weil sie es anders tun. Sie gehen tendenziell sinnlicher an die Sache heran, freuen sich darauf, machen es sich gemütlich, wählen bewusst einen Film aus, der ihnen gefällt. Männer gehen auch anders mit den Filmen um, sie öffnen unzählige Fenster gleichzeitig, wechseln ständig zwischen verschiedenen Filmen und suchen gezielt nach einzelnen Szenen. Ich habe noch nie gehört, dass eine Frau so Pornos schaut. Ich will das gar nicht werten, aber es hat zur Folge, dass Männer anfälliger dafür sind, von Pornos vereinnahmt zu werden.

Im Internet findet man unzählige Seiten, die vor Pornokonsum warnen und Angebote bereitstellen, um davon loszukommen. Was halten Sie davon?
Oftmals wird dort die absolute Abstinenz von Pornos oder sogar von der Ejakulation gepredigt. Aber der Druck, den solche Verbote ausüben, macht natürlich alles noch schlimmer. Wenn man nicht einmal mehr der Therapeutin sagen kann, dass man wieder einen Porno geschaut hat, wird man sich umso mehr in eine Parallelwelt zurückziehen. Wir sollten aber gerade in die andere Richtung gehen: Pornokonsum als Normalität akzeptieren und einen gesunden Umgang damit finden.

Ursina Brun del Re

Für ihre Doktorarbeit an der Universität Zürich hat Ursina Brun del Re (39) über tausend Personen, die in der Schweiz in einer Paarbeziehung leben, nach ihrem Pornokonsum befragt. Ihre wichtigste Erkenntnis: Weniger als der Konsum selbst wirkt sich dessen Stigmatisierung negativ auf das Sexleben aus. In ihrer eigenen Praxis in Zürich arbeitet Brun del Re als Psycho-, Sexual- und Paartherapeutin.

Mickry 3

Nina von Meiss (41), Dominique Vigne (39) und Christina Pfander (39) leben und arbeiten in Zürich. Sie bilden zusammen das Künstlerinnenkollektiv Mickry 3. Die Skulpturen als Illustration zum Interview tragen den Titel «Get Physical», 2015 wurden sie als Fotoarbeit neu interpretiert. Auch die Coverkunst dieses «wobei» stammt von Mickry 3.

Kürzlich gerieten die drei Künstlerinnen in die Schlagzeilen, weil die Migros eine von Mickry 3 gestaltete Migros-Tasche aus unerklärlichen Gründen für zu «provokant» befand und fast die gesamte Auflage von 60 000 Stück einstampfen liess. www.mickry3.net

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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