Dokumentarische Kunst: Ab in die Klausur

Nr. 15 –

Gleich drei Ausstellungen thematisieren das Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion. Weg von der Politik, hin zur Selbstreflexion.

Wenn die Kunst mit den Begriffen Realität oder gar Authentizität zu operieren beginnt, dann wird es ziemlich schnell ziemlich kompliziert. Nicht so bei der Künstlergruppe Azorro aus Warschau. «Everything has been done» (Alles wurde gemacht) heisst das Zweikanalvideo von 2003, in dem die vier Künstler sich an unterschiedlichen Orten zusammenfinden und darüber diskutieren, in welche Richtung ihre nächste Arbeit gehen könnte. Sobald einer einen Vorschlag macht, entgegnet ein anderer frustriert: «It has been done already» (Das wurde schon gemacht). Als künstlerische Arbeit präsentieren sie uns also eine fiktive Dokumentation, in der sie sich einigermassen ironisch über die Ausweglosigkeit, in der Kunst etwas Neues zu schaffen, unterhalten. Kein schlechter Einstieg in die Ausstellung «The Need to Document», die zurzeit im Kunsthaus Baselland stattfindet.

Woher rührt denn dieses Bedürfnis der Kunst, alles zu dokumentieren, das der Ausstellungstitel suggeriert? Besteht da vielleicht ein Zusammenhang mit der zunehmenden Verdrängung des klassischen Dokumentarfilms am Fernsehen durch Reality-Formate, die für eine Radikalisierung und Trivialisierung des Genres stehen? Wahrscheinlich ist die Zuwendung der Kunst zur verschupften Gattung Dokumentation nicht ganz selbstlos. Azorros Beitrag legt es nahe: Wenn einem gar nichts mehr einfallen will, dann filmt man einfach den Zustand der Einfallslosigkeit, dabei entsteht ein Produkt, das im Betrieb wie ein Kunstwerk zirkulieren kann und dem erst noch selbstreflexive Qualitäten zugeschrieben werden.

Diese Erklärung mag für einige aktuelle dokumentarische Ansätze zutreffen, für andere gilt sie ganz bestimmt nicht. Denn Einfallslosigkeit kann man zum Beispiel der hochkomplexen, auch visuell überzeugenden Arbeit «10 104 Angelo View Drive» (2004) der österreichischen Künstlerin Dorit Margreiter zuletzt vorwerfen. Ihr siebenminütiger Film zeigt das Interieur einer Villa von John Lautner, die als spätmodernistische Architekturikone unter anderem als Kulisse für Filme wie «The Big Lebowski» diente. Der statischen Kamera steht eine bewegte Architektur gegenüber: Immer wieder öffnen sich lautlos Dach- und Panoramafenster und geben atemberaubende Blicke auf tief unter dem Haus sich ausbreitende Stadtlandschaften von Los Angeles frei. Dazwischengeschnitten sind kurze Performanceszenen der Künstlerinnengruppe Toxic Titties, die in jenen Räumen aufgenommen wurden. Und schliesslich erscheint das versenkbare Fernsehgerät im Film samt Architekturfragmenten als Double (und Projektionsfläche des Films) im Ausstellungsraum wieder - und verortet die verwirrenden Spiegelungen und Überblendungen von Film und Architektur im Hier und Jetzt.

Die Kuratorin Sabine Schaschl hat in ihrer Ausstellung versucht, ganz unterschiedliche Zugänge zum Dokumentarischen zu versammeln. Neben dem ironischen Ansatz Azorros und Doris Margreiters im höchsten Masse selbstreflexiver Auseinandersetzung mit dem Medium Film findet sich in Muttenz auch der ganz direkte Typus der Dokumentation, zum Beispiel das Video «La femme est sentimentale» von Oliver Zabat, in dem zwei junge brasilianische Frauen am Strand freimütig und locker von der Gewalt erzählen, der sie in den Favelas Tag für Tag ausgesetzt sind. Oder aber der klassische Dokumentarfilm «Venezuela von unten» von Oliver Ressler und Dario Azzellini, der die sozialen Veränderungen aufzuzeichnen versucht, die seit der Regierungsübernahme von Hugo Chávez stattgefunden haben.

In einer Gesprächsrunde im Kunsthaus Baselland wurde der Einbruch des Dokumentarischen in die Kunst von allen Teilnehmenden als produktiv beurteilt: Als Feld undisziplinierter Praktiken bringe die Dokumentation Bewegung in den Kunstraum, meint der Kunsttheoretiker Jan Verwoert, während Georg Schöllhammer, Herausgeber der Zeitschrift «Springerin», kurz die Entwicklung des Dokumentarischen von einem inhaltlich-politischen Diskurs Anfang der neunziger Jahre hin zu einer Theoretisierung und Selbstreflexion des Feldes nachzuzeichnen versuchte. Gleichzeitig warnte er vor dieser Tendenz, denn die emanzipativ-befreiende Praxis des Dokumentarischen drohe dabei auf der Strecke zu bleiben.

Eindeutig der selbstreflexiven Gegenwart gehört die Ausstellung «Documentary Creations» von Susanne Neubauer im Kunstmuseum Luzern an. Politische Anliegen, wie sie in Baselland ansatzweise noch spürbar sind, sind hier gänzlich ausgemerzt. In der äusserst sorgfältig durchdachten und inszenierten Ausstellung begibt sich das künstlerische Medium der Dokumentation endgültig in Klausur und brütet über sich selbst, seine formalen und symbolischen Möglichkeiten nach. Das ist manchmal einfach anstrengend, wie zum Beispiel in «You are mY DestinY» von Melik Ohanian, oder aber definitiv übercodiert wie bei Adam Chodzko, der uns in dieser Ausstellung gleich zweimal beglückt - im Eingangsbereich mit neun Posters der Serie «Meeting», im letzten Raum mit «Nightvision» (Nachtsicht). «Wie so oft nähert sich Chodzko hier mit Hilfe der Gegenüberstellung von formalen Hinweisen und inhaltlicher Narration der Grenze des gedanklich nicht mehr Nachvollziehbaren», merkt der kostenlose Ausstellungsführer gnädigerweise an. Etwas weniger umständlich, aber immer noch nahrhaft genug erweisen sich die «Connotations - Performance Images» von Hayley Newman, die fiktive Performances mit fiktiven Dokumentationen verknüpft - und damit die Kategorie der «Wahrheit», mit der das Dokumentarische traditionell engstens verbunden ist, ad absurdum führt.

«The Need to Document». Kunsthaus Baselland. Bis 1. Mai 2005.

«Documentary Creations». Kunstmuseum Luzern. Bis 29. Mai 2005.

«Reprocessing Reality». Château de Nyon. Ab 18. April bis 29 Mai. In Zusammenarbeit mit dem Filmfestival «Visions du Réel».