Durch den Monat mit Antonio Loprieno (Teil 4): Fanden Sie Sensationen?

Nr. 21 –

Wer ist ein echter Wissenschaftler?
Ein echter Wissenschaftler ist einer, der die Neugier an seiner eigenen Disziplin nie verliert. Einer, der jeden Tag den Eindruck hat, ungenügend zu sein.

Nach der Ausgrabung der letzten Ruhestätte von Tutenchamun im Jahr 1922 gab es in den Reihen der daran beteiligten Archäologen verschiedene mysteriöse Todesfälle – es kursierte das Gerücht, das sei der Fluch des Pharaos. Ist dieser «Fluch» Ausdruck eines Schuldbewusstseins?
Die Legende dieses Fluches – und es ist eine Legende – widerspiegelt das Unbehagen der archäologischen Welt angesichts ihres eigenen Hochmuts. Sie ist eine Art innere Einsicht der westlichen Welt in die Problematik des Forschens um den Tod.

Nun gräbt die Universität Basel im Tal der Könige. Diese Ausgrabung findet in enger Zusammenarbeit mit der ägyptischen Antikenverwaltung statt.
Es ist heute nicht mehr denkbar, dass Grabungen nur noch von westlicher Seite betrieben werden. Die Ägypter haben sich emanzipiert und wollen als gleichberechtigte Partner anerkannt werden.

Heisst das, dass ägyptische Archäologen beteiligt sind, oder heisst das, dass man einfach ägyptische Arbeiter zum Wegräumen des Schuttes anstellt?
Beides. Bei jeder Grabung sind auch mehrere ägyptische Archäologen als Inspektoren einbezogen. Sie vertreten Ägypten vor Ort und vertiefen gleichzeitig ihre Kenntnisse.

Wie ist die Zusammenarbeit mit der ägyptischen Altertümerverwaltung?
Wir haben nie Schwierigkeiten gehabt. Grundsätzlich gibt es aber zwei Arten von Schwierigkeiten. Erstens, wenn man mit einem Projekt nicht in den Masterplan der Altertümerverwaltung passt. Zum Beispiel hat die Altertümerverwaltung beschlossen, keine neuen Konzessionen für das obere Niltal mehr zu vergeben. Sie will die Arbeiten im Delta vorantreiben. Dazu kommt, dass Ägypten nicht nur die Altertümer retten will, es will den Touristen auch möglichst viele interessante Stellen zeigen. Wenn aber Horden von Touristen durch das Tal laufen und unsere Arbeit stören, dann haben wir ein Problem.

Man behauptet, dass alle Archäologen mindestens auf der Suche nach einem weiteren Fund ähnlich dem Tutenchamun-Grab seien?
Ich selber bin kein Archäologe. Aber ich kenne meine Kollegen gut genug, um bezeugen zu können, dass keiner von ihnen auf der Suche nach materiellen Schätzen ist – sie suchen allenfalls wissenschaftliche Sensationen.

Und haben Sie Sensationen gefunden?
Tatsächlich. Das von der Uni Basel betreute Projekt MISR (Mission Siptah Ramses X.) hat Arbeiterhütten gefunden und kann belegen, dass das Tal der Könige nicht nur die Residenz der toten Könige war, sondern dass darin – wenigstens zeitweise – auch lebendige Menschen gewohnt hatten. Wir haben nicht nur die Hütten ausgegraben, sondern auch Dokumente des täglichen 
Lebens, zum Beispiel Tonscherben mit Rechnungen oder Unterhaltungstexten, entdeckt. Das Publikum hat im Allgemeinen eine sehr auf das Jenseits orientierte Vision des alten Ägypten – als ob sie ein Leben lang nur mit dem Tod 
beschäftigt gewesen wären.

Trotzdem. Die grossen Zeugnisse der ägyptischen Kultur sind Monumente des Todes. Haben sie bis in unsere Zeit überdauert, weil das Leben so kurz ist und der Tod ewig?
Es gibt einen objektiven Faktor: Vom Tod ist so viel geblieben, weil dieser baulich eng an den Stein gebunden war. Das Leben hingegen war an den Ziegel gebunden. Der Ziegel ist verschwunden, die Steine sind geblieben, daher die Annahme, die alten Ägypter hätten nur mit dem Tod zu tun gehabt.

Es ist ja bekannt, dass sich die Christen schon immer sehr für ihre religiösen Wurzeln interessiert haben. Und dazu gehört auch die im Alten Testament beschriebene Flucht Josephs nach Ägypten. Sie selbst engagieren sich stark in der evangelischen Kirche. Hat die Beschäftigung mit der Religion bei Ihrem Entscheid, Ägyptologie zu studieren, auch eine Rolle gespielt?
Ich komme aus einer areligiösen Familie. Ich habe aber ihre enzyklopädische Weltsicht immer wieder infrage gestellt. Auf der Suche nach meiner religiösen Identität habe ich eine Zeit lang ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Jude zu werden. Da war das Hebräische ein Kanal – und dieser Prozess verselbständigte sich und führte mich zur Ägyptologie. Zu meinem jetzigen Engagement: Es gibt die Tendenz, dass sich der laizistische Mensch einbildet, allzu mächtig zu sein. Ich denke, es ist eine Schule der Demut, wenn man die Möglichkeit trainiert, anzunehmen, dass der Mensch doch nicht so mächtig ist.

Antonio Loprieno, 49, ist Professor für Ägyptologie und Vorsteher des Ägyptologischen Seminars der Universität Basel.