Durch die Ferien mit Ludwig A. Minelli, Sterbehelfer: Erhalten Sie auch Legate?

Nr. 29 –

WOZ: Herr Minelli, Sie beschäftigen sich hauptberuflich mit Menschen, die sterben möchten.

Ludwig A. Minelli: Das stimmt so nicht ganz. Dignitas hat gegen 6000 Mitglieder in 52 Ländern. Diese Leute wollen in einer bestimmten Situation eine Wahlmöglichkeit, damit sie nicht bis ans bittere Ende eines Leidens durchhalten oder selber einen Suizid versuchen müssen.

Weil er oft schief geht?

Der Bundesrat hat 2002 erklärt, in 49 von 50 Fällen müsse man damit rechnen, dass ein Suizidversuch schief gehe. Das ist ein unzumutbares Risiko. Genauso unzumutbar ist es, bis ans bittere Ende durchhalten zu müssen. Ein ärztliches Rezept für einen begleiteten Suizid öffnet diesen Personen einen Notausgang. Dann bricht die Spannung zusammen. Siebzig Prozent von ihnen melden sich dann überhaupt nicht mehr.

Nehmen wir an, ich möchte sterben und wende mich an Sie …

Dann würden wir Sie zuerst einmal fragen: Warum?

Ich würde sagen: Ich habe Depressionen.

Dann würde ich Ihnen sagen: Weil der Zürcher Kantonsarzt die Ärzte mit Berufsverbot bedroht, die in so einem Fall ein Rezept schreiben, geht das leider nicht. Aber bei einer Depression würden wir ohnehin nicht vorschnell Ja sagen. Eine Depression kann in der Regel professionell angegangen werden. Leider gibt es aber auch Fälle, die sich über Jahre hinziehen und therapieresistent sind. Wenn jemand sagt: «Ich bin seit Jahren in Behandlung und habe unzählige Therapien gemacht; so will ich nicht mehr weiterleben!», ist dieser Wunsch nicht Ausdruck der Krankheit, sondern Einsicht in deren Unheilbarkeit. Es ist für diesen Menschen - aus seiner eigenen Sicht - sinnvoll, das Leben zu beenden. Da erscheint der Tod als gerechtfertigt.

Es geht also um das Recht auf Freitod?

Wir gehen davon aus, das Recht, sein eigenes Leben zu beenden, sei durch Artikel 8 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.» Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erklärt, er könne ein solches Recht nicht ausschliessen, habe dies jedoch noch nie entscheiden müssen. Und er sagte: Angesichts der zwiespältigen Fortschritte der Medizin und der Verlängerung der Lebenserwartung fragten sich immer mehr Leute, ob sie denn bei zunehmendem körperlichem oder geistigem Verfall dazu gezwungen werden könnten, in einem Zustand weiterleben zu müssen, den sie mit ihrer eigenen Identität nicht in Übereinstimmung bringen könnten. Der Begriff der Lebensqualität gewinne im Zusammenhang mit Artikel 8 der EMRK zunehmend Bedeutung.

Entscheidend ist wohl, dass eine Person wirklich aus eigenem Wunsch stirbt und nicht zum Sterben gedrängt wird: Wie garantieren Sie das?

Niemand kann das garantieren. Wir prüfen: Ist der Wunsch konstant, etwa durch den Zeitablauf und die Wiederholung des Begehrens? Gibt es Anzeichen für einen Druck seitens Dritter? Eine Studierende der Universität Magdeburg hat unsere 138 Suizidbegleitungen des Jahres 2005 untersucht und dokumentiert: Der Zeitraum zwischen Eintritt in den Verein und Freitodbegleitung variiert zwischen 6 Tagen - mit Rezept des eigenen Hausarztes - und mehr als 1800 Tagen. Ausser dem Zeitablauf sind Begegnungen und Gespräche wichtig - mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit dem Arzt. Es ist ja nie nur eine Person allein, die mit einem Sterbewilligen zu tun hat.

Ist der Arzt unabhängig?

Was heisst unabhängig? Wir haben keine Ärzte angestellt. Zum Glück gibt es Ärzte, die mit uns zusammenarbeiten und ebenfalls der Meinung sind, der Mensch müsse eine risikofreie Möglichkeit zum Suizid haben. Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften anerkennt, dass ein Arzt in bestimmten Fällen ein Rezept für das dafür notwendige Medikament ausstellen darf: Ausserhalb der ärztlichen Tätigkeit, wie es zwar heisst, aber auch in diesem Punkt wird die Akademie ihre Meinung dereinst wohl noch ändern.

Sie unterhalten ein Büro und eine Sterbewohnung, haben Leute angestellt. Wie finanzieren Sie das?

Mit Mitgliederbeiträgen. Wir haben eine Eintrittsgebühr von 100 Franken und einen Jahresbeitrag, den das Mitglied selber bestimmt, mindestens aber 50 Franken. Da die freiwillig erhöhten Zahlungen nicht ausgereicht haben, mussten wir Sondermitgliedergebühren einführen: je 1000 Franken erstens für die Vorbereitung der Freitodbegleitung, die sehr aufwendig ist und sehr viel Arbeit verlangt; zweitens für die Durchführung der Freitodbegleitung; drittens für den Verkehr mit Behörden nach dem Tod, wenn dieser nicht von der Familie übernommen wird.

Das heisst, wenn ich bei Ihnen sterben möchte, dann würde mich das rund 3000 Franken kosten?

Nein, weil Sie Schweizer sind, würde Ihre Familie mit den Ämtern verkehren. Den Leuten, die im Ausland wohnen, sagen wir: Alles in allem - mit den Arztkosten, mit der Kremation, mit der ganzen Abwicklung nach dem Tod - kostet es ungefähr 3500 Euro.

Erhalten Sie auch Legate von verstorbenen Mitgliedern?

Selten. Äusserst selten. Würden wir mehr erhalten, hätten wir keine Sondermitgliederbeiträge einführen müssen.

Gibt es eine unabhängige Aufsicht über Ihre Arbeit?

Von Beginn an die Staatsanwaltschaft. Sie prüft nachträglich jeden einzelnen Fall. Kürzlich gab ich zudem einem Staatsanwalt freiwillig Einblick in den Buchhaltungscomputer. Er ging Gerüchten nach, die über uns herumgeboten wurden. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Wer meint, ich würde mich bereichern, kann sich auf dem Steueramt in Maur einen Steuerausweis geben lassen: Seit der Gründung von Dignitas vor über acht Jahren sind meine steuerbaren Einkünfte wesentlich zurückgegangen. Dignitas hat im letzten Jahr auch eine interne Qualitätskontrolle eingeführt. Deren Auswertung ist auf unserer Website veröffentlicht.

Die «SonntagsZeitung» schrieb kürzlich, Sie hätten Ihre persönlichen Steuerdaten sperren lassen.

Das Gegenteil ist wahr. Ich habe im Februar 2006 dem Gemeindesteueramt in einem Brief mitgeteilt, meine Steuerdaten seit 1997 seien nicht mehr gesperrt. Leider ist die Sonntagspresse notorisch unsorgfältig und unzuverlässig.

Gibt es öfter Strafuntersuchungen gegen Sie?

Es gab noch nie eine Strafuntersuchung, die zu etwas anderem als einer Einstellungsverfügung geführt hätte.

Wenn jemand in Ihrer Sterbewohnung stirbt, rufen Sie die Polizei?

Wir rufen Telefon 117 an. Ein Staatsanwalt, der Bezirksarzt, ein Polizeioffizier und ein Polizeidetektiv ermitteln dann, ob ein Drittverschulden vorliegt. Das wurde während der vergangenen acht Jahre in allen der bisher mehr als 580 Fälle immer ausgeschlossen.

Seit einiger Zeit ist Sterbehilfe auch in Stadtzürcher Altersheimen möglich. Gleichzeitig liest man überall, wir könnten die Kosten der Alten bald nicht mehr bezahlen. Besteht nicht die Gefahr, dass man alten Leuten das Sterben regelrecht aufnötigt?

Ich habe den Zürcher Stadtarzt gefragt, wie viele Fälle es in den Altersheimen gebe pro Jahr. Antwort: null bis drei - bei über 3000 Pensionären. Dazu gibt es noch etwa drei Fälle, die aus den Heimen heraus in ein Sterbezimmer der Organisation Exit gehen: um die Bürokratie im Heim zu vermeiden. Die Vorstellung eines Dammbruchs - wenn man es nur erlaube, gebe es eine Flut von Fällen - ist also unbegründet. Der assistierte Suizid wird in der Schweiz von Exit seit 1985 praktiziert. Das ist weit herum bekannt. Bestünde eine Dammbruchgefahr, wären die Zahlen viel höher. Zudem hat eine Kommission des britischen Oberhauses festgestellt, dass in jenen Staaten, in denen Euthanasie möglich ist, wie in Holland und Belgien, die Zahl der Fälle signifikant höher ist als in Staaten wie der Schweiz, in denen lediglich Suizidbeihilfe möglich ist. Dass bei uns der letzte Akt im Leben eines Menschen, der zu seinem Tod führt, von ihm selber ausgelöst werden muss, ist die beste Garantie gegen Missbräuche.

Was für einen Cocktail muss er trinken?

Cocktail ist eine journalistische Metapher: Etwas Wasser und fünfzehn Gramm Natriumpentobarbital. Das brauchte man früher in viel geringerer Dosierung für Kurznarkosen, als Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Tierärzte verwenden es, um Tiere einzuschläfern.

Man wirft Ihnen vor, Sie hätten dieses Mittel auch schon mit Rezepten von Verstorbenen beschafft …

Während mehrerer Jahre hatte Dignitas - wie Exit auch - bei Freitodbegleitungen neben der namentlich verschriebenen Portion Natriumpentobarbital immer eine Reserveportion dabei, die uns vom Arzt aus Sorgfaltsgründen verschrieben worden war. Als nun eine Person nach dem Arztgespräch ihre Freitodbegleitung sofort erhalten wollte, setzten wir für sie eine der Reserveportionen ein, damit sie nicht warten musste, und holten im Anschluss an die Freitodbegleitung das für sie bestimmte Medikament in der Apotheke, um die Reserve wieder aufzufüllen. Diese sinnvolle und sorgfältige Praxis wurde dann durch die Staatsanwaltschaft gestört. Sie hat eine der Reserveportionen beschlagnahmt, weil es an Vorschriften dafür fehle, solche Reserven aufzubewahren.

Warum musste es nach dem Arztgespräch plötzlich so schnell gehen?

Auch wegen der Polizei. Sie legt Wert darauf, dass sie zur Abklärung eines Falles wenn immer möglich in der normalen Arbeitszeit aufgeboten wird. Darauf nehmen wir selbstverständlich Rücksicht. Andererseits soll eine Freitodbegleitung ohne jede Hast verlaufen. Deshalb ist die Vermeidung unnötigen Zeitaufwandes vor der Begleitung wichtig.

Die Staatsanwaltschaft hat Ihnen verboten, Natriumpentobarbital zu lagern?

Das trifft nicht zu. Es liegt nicht in der Kompetenz der Staatsanwaltschaft, irgendwem etwas zu verbieten; das ist Aufgabe von Gesetzen oder Gerichten. Die Staatsanwaltschaft hat im Zusammenhang mit der Beschlagnahme allerdings erklärt, das gegenwärtige Recht lasse keine Natriumpentobarbital-Reserven bei Sterbehilfevereinen zu. Hier zeigt sich, dass es wirklich neue Vorschriften wegen der Freitodbegleitungen braucht, aber eben solche, die für mehr Vernunft bei den Behörden sorgen.

Wenn ich jetzt bei Ihnen sterben will, und Sie lehnen mich ab ...

Wir lehnen nie jemand ab. Wir sagen: Wir haben bisher noch keinen Arzt für Sie gefunden, bitte haben Sie Geduld! Dignitas trifft keine Entscheide.

Sie sagen auch nicht: Leben Sie doch weiter, es könnte so schön sein!

Das sowieso nicht. Aber: Machen Sie bitte keinen eigenen Suizidversuch! Und wir erklären Ihnen, dass man sich mit Tabletten heute nicht mehr umbringen kann. Das ist leider viel zu wenig bekannt: Für Laien gibt es keine Medikamente oder Methoden mehr, die ohne grosse Risiken funktionieren.


Ludwig A. Minelli, geboren 1932, war von 1964 bis 1974 als Korrespondent des «Spiegels» in der Schweiz. Im Alter von 54 Jahren wurde er Rechtsanwalt mit Spezialgebiet Menschenrechte. Neben anderen Organisationen gründete und leitet er den Verein Dignitas, der in Zürich eine viel beachtete Sterbewohnung unterhält. Minelli lebt auf der Forch bei Zürich.