Durch den Monat mit Pierre-Alain Schneider (Teil 1): Zweiklassenmedizin?

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WOZ: Der Waadtländer und der Genfer Ärzteverband sind mehrheitlich für die Einheitskrankenkasse. Weshalb?
Pierre-Alain Schneider: Wir finden es falsch, die Initiative unter dem Vorwand abzulehnen, sie bringe eine «staatliche» Gesundheitsversorgung. Das stimmt nicht. Es ist eine Verfassungsinitiative, sie fordert die eidgenössischen Räte auf, neue Gesetze zu erlassen. Das ist ihre Stärke: Sie fordert eine Debatte, um aus einer festgefahrenen Situation herauszukommen.

Sind Sie für einkommensabhängige Prämien?
Die wichtigsten Forderungen sind, dass die soziale Krankenversicherung von den privaten Zusatzversicherungen getrennt wird und dass die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen eine Kontrolle ausüben können. Die einkommensabhängige Prämie kommt für mich an zweiter Stelle, leider bedeutet sie wahrscheinlich das Todesurteil für die Initiative. Dabei ist klar, dass es ohne diese soziale Komponente nicht mehr geht. Das heutige System stammt aus einer Zeit, wo die Prämien niedrig und die Versicherung freiwillig war. Jetzt ist das Gegenteil der Fall. Der Staat muss immer mehr Menschen subventionieren, die ihre Prämien nicht bezahlen können. Das ist ein Unsinn. Man macht Menschen von staatlicher Hilfe abhängig, statt eine bezahlbare Versicherung einzurichten.

Ihr Dachverband, die FMH, sieht es anders.
Das Gesundheitssystem ist in der Romandie teurer. Deshalb werden wir Ärzte angeschwärzt, wir seien zu teuer, und die Patienten werden gerügt, sie konsumierten zu viel. Die Romands sind die Bösen, die Undisziplinierten, mit diesem Vorurteil treten uns die Kassen entgegen. Das bleibt nicht ohne Folgen. Dabei haben wir, nur als Beispiel, vor kurzem bewiesen, dass im Kanton Genf im Vergleich zu den real anfallenden Kosten zu hohe Prämien bezahlt werden. Was heisst, dass die Berechnungen der Kassen verzerrt sind. Es ist schwer, dagegen anzutreten, weil die Kassen undurchsichtig operieren.

Leiden Sie unter der Kassenlobby im Nationalrat?
Mein Waadtländer Kollege Doktor Yves Guisan, Vizepräsident der FMH und freisinniger Nationalrat, wollte einen Gegenvorschlag für die Initiative ausarbeiten. Die zuständige Kommission hat sich schlicht geweigert, darauf einzutreten. In der Kommission sitzt eine Mehrheit von Parlamentariern, die Verwaltungsratsmitglieder von Krankenkassen sind.

Was halten Sie vom Onlinedienst Comparis, mit dessen Hilfe man seine Prämie berechnen kann, falls die Initiative angenommen wird?
Ich weiss nicht, mit welchen Zahlen hier operiert wird. Falls die Initiative angenommen wird, kann der Bundesrat verschiedene Modelle ausarbeiten. Dies gilt auch für die Prämien. Es ist unsinnig, heute schon zu tun, als ob 
diese Zahl ausgerechnet werden kann. Aber es geht ja einfach darum, Angst zu machen.

Die Ärzte gehören zu den gut Bemittelten. Weshalb sind Sie trotzdem für die Einheitskasse?
Es stimmt leider nicht, dass es allen Ärzten finanziell gut geht – das war einmal. Doch abgesehen davon ist es für uns wichtig, die Zukunft der Gesundheitsversorgung zu sichern. Wenn man nichts tut, kommt es in absehbarer Zeit zum Crash. Wir sehen das Leiden der Menschen, wir wollen ihnen helfen, aber immer, wenn wir etwas tun, heisst es: «Zu teuer.» Vor allem bei Krebspatienten weigern sich die Kassen immer häufiger, bestimmte Behandlungen zu übernehmen. Ein anderes Beispiel: Bei einer Hüftoperation gilt eine Wartezeit von sechs Monaten als «angemessen». Und es ist «zumutbar», wenn ein Patient am Morgen hospitalisiert und am Abend unverrichteter Dinge heimgeschickt und seine Behandlung auf einen späteren Termin verschoben wird.

Das heisst, die Zweiklassenmedizin kommt?
Sie ist schon da! Die Frage ist nur: Welche Qualität hat die zweite Klasse? Wenn Sie im Zug erster oder zweiter Klasse fahren, haben Sie die gleichen Fahrzeiten, die gleichen Unfallrisiken und die gleiche Ankunftszeit. Im Gesundheitswesen ist das nicht mehr so. Als Arzt kann ich das nicht verantworten.

Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Ich habe ein Hobby, eine grosse Leidenschaft, bei der ich sehr gut abschalten kann: Die Fliegerei. Schon als Kind wollte ich Flieger werden. Ich habe eine Leidenschaft für alles, was vom Boden abhebt. Man sieht die Welt anders von oben, nahe den Wolken. Dort fühle ich mich frei wie ein Vogel. Ich bin mir bewusst, dass man mein Hobby kritisieren kann. Aber ich versichere Ihnen: Dafür verzichte ich auf einen grossen Vierradantrieb.

Pierre-Alain Schneider ist Radiologe und Präsident der Genfer Ärztevereinigung AMG, einer Sektion der FMH.