Durch den Monat mit Pierre-Alain Schneider (Teil 2): Der Arzt – ein Proletarier?

Nr. 6 –

WOZ: Im Kanton Genf haben gegen 7000 Menschen keinen Versicherungsschutz mehr, weil die Krankenkassen ihre Verträge wegen ausstehender Prämienzahlungen suspendiert haben. Welche Folgen hat das?
Pierre-Alain Schneider: Die öffentlichen Spitäler weisen niemanden ab, und ich kenne auch kaum einen Arzt, der Betroffene auf die Strasse stellen würde. Wir diskutieren mit ihnen und suchen nach einer Lösung. Was uns aber wütend macht: Eigentlich gibt es ja eine soziale Krankenversicherung, die finanzielle Probleme als Folge von Krankheit vermeiden soll. Diesen Auftrag wälzen die Krankenkassen heute jedoch auf die Ärzte und auf den Staat ab. In Genf steht nun zur Debatte, dass der Staat einspringen muss.

Ihr Waadtländer Kollege, der Arzt Christian Deslarzes, wirft Bundesrat Pascal Couchepin vor, der humanistischen Medizin den Todesschein ausgestellt, einen Raubüberfall der Wirtschaft auf die Medizin organisiert und aus dem Arztberuf einen proletarisierten Beruf gemacht zu haben. Wie sehen Sie das?
Mein Kollege drückt sich zugespitzt aus. Aber etwas ist schon dran. Dass drei Viertel der Genfer Ärztinnen und Ärzte für eine Einheitskasse sind, hat mich persönlich überrascht. Ich sehe darin ein Zeichen dafür, dass sie das Ganze satt haben. Sie können sich nicht damit abfinden, dass man ihnen ihr soziales Gewissen abspricht und dass die Tarife ihre Entscheide diktieren, statt das Interesse der Patienten.

Der Arzt – ein Proletarier?
So weit sind wir noch nicht. Aber eine Entwertung unserer gesellschaftlichen Stellung ist im Gang, wie dies früher schon im Journalismus oder bei den Lehrberufen geschah. Die Versicherungen sind mit ihren Kampagnen gegen die «teuren» Ärztinnen und Ärzte an der Entwicklung beteiligt. Sie machen damit viel kaputt. Man muss sehen: Ein Arzt, der Aidskranke pflegt, ist ein teurer Arzt. Oder eine Ärztin, die ihre Patienten zu Hause pflegt, statt sie ins Spital abzuschieben, ist eine teure Ärztin. Obwohl beide objektiv gesehen Kosten sparen, die Kosten für den Spitalaufenthalt nämlich.

Sie sind Präsident der Genfer Ärztevereinigung. Was bringt Ihnen das?
Viel Ärger! Ich bin da hineingerutscht wie Winkelried in die gegnerischen Spiesse. Aber es macht auch Spass, weil wir über grundlegende Themen diskutieren: das Gesundheitssystem, die Qualität der ärztlichen Versorgung, die Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte. Wenn man aus unserem Beruf einen Pariaberuf macht, werden die Studentinnen und Studenten andere Fächer wählen. Bereits heute werden an den Universitäten nicht mehr genügend Ärzte ausgebildet. Für den Kanton Sankt Gallen weist eine Studie nach, dass rund fünfzig Prozent der internen Mediziner, also der in Spitälern arbeitenden Ärzte, im Ausland ausgebildet worden sind. Das ist an sich kein Problem, wirft aber die Frage auf, ob unser eigenes Ausbildungssystem noch funktioniert. Ausserdem bedeutet es, dass wir vielen ärmeren Ländern, die Ärzte ausgebildet haben, die besten Kräfte wegnehmen.

Was halten Sie von Bundesrat Couchepins Kampagne gegen die Einheitskasse?
Ich bin entsetzt. Von einem Bundesrat erwarte ich Zurückhaltung und nicht, dass er sein ganzes Gewicht für eine Seite in die Waagschale wirft.

Pascal Couchepin sagt, Konkurrenz werde die Kosten im Gesundheitswesen senken und nicht eine Einheitskasse.
Wo sehen Sie Konkurrenz? Die einzige Konkurrenz, die es gibt, ist die Jagd auf gute Risiken.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit der eidgenössischen Politik nicht einverstanden sind. Vor einigen Jahren kritisierten Sie die Praxis des Bundesamts für Flüchtlinge ...
... nein, nein, das war eine rein wissenschaftliche Frage. Ich äusserte mich als Radiologe zur Frage, ob es möglich ist, mit Röntgenaufnahmen das Alter von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern festzustellen.

Worum ging es genau?
Das Bundesamt für Flüchtlinge machte Röntgenuntersuchungen der Hand, 
um festzustellen, ob Asylbewerber, 
die keine verlässlichen Angaben über ihr Alter machten, voll- oder minderjährig sind. Zwar lässt sich an der 
Entwicklung der Handknochen der 
Beginn der Pubertät ablesen. Aber 
die Frage, in welchem Alter die Pubertät eingesetzt hat, wird damit nicht beantwortet. Röntgenaufnahmen sind 
daher keine zuverlässige Methode. Wenn es schon Gesetze gibt zum besseren Schutz von minderjährigen Asylbewerbern, sollen diese Gesetze auch richtig angewendet werden.

Pierre-Alain Schneider ist Radiologe 
und Präsident der Genfer Ärztevereinigung AMG, einer Sektion der Verbindung der Schweizer Ärztinnen 
und Ärzte (FMH).