Durch den Monat mit Pierre-Alain Schneider (Teil 3): Was ist das Wesentliche?
WOZ: Finden Sie es gut, dass in der Debatte um die Einheitskrankenkasse jetzt Zahlen auf dem Tisch liegen, mit denen die Prämien ausgerechnet werden können?
Pierre-Alain Schneider: Nein, im Gegenteil. Die Zahlen beider Seiten sind Simulationen ohne grosses Gewicht. Die Initiative ist eine Verfassungsinitiative und legt die Ausgestaltung der neuen Krankenversicherung in die Hand des Parlaments. Mit der Feilscherei um die Prämienhöhe geht die Diskussion weg vom Wesentlichen.
Was ist denn das Wesentliche?
Die Frage, wie eine Krankenversicherung mit Zukunft aussieht. Eine transparente, nachhaltige Sozialversicherung, die getrennt von privaten Zusatzversicherungen funktioniert.
Weshalb sind die Kassen so interessiert, die Basis- und die Zusatzversicherungen in einer Hand zu behalten?
Es erlaubt ihnen, weiterhin undurchsichtige Geschäfte zu machen, bei
denen man nicht weiss, wer was finanziert und querfinanziert. Wenn den Kassen die obligatorische Versicherung entgleitet, verlieren sie ihre
politische Macht, und die Konkurrenz um die Zusatzversicherungen wird härter. Denn die meisten Versicherten schliessen Zusätze bei jener Kasse ab, bei der sie ihre Grundversicherung
haben.
Welche politische Macht meinen Sie?
Die Macht, das ganze Krankenversicherungssystem nach ihren Bedürfnissen zu dirigieren. Die Kassen sind
heute so etwas wie der bewaffnete Arm der politischen Macht. Sie machen, was sie wollen, niemand schaut ihnen auf die Finger. Die Verwaltungskosten im Schweizer Gesundheitswesen gehören im europäischen Vergleich zu den höchsten! Und, wenn wir schon bei Zahlen sind: Laut Statistik der Sozialversicherungen 2006 sind die Gesundheitskosten in der Schweiz praktisch parallel zu andern Sozialversicherungskosten gestiegen. Das heisst, es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Wahr ist, dass die
Kosten steigen, weil das Durchschnittsalter steigt. Das führt zu Problemen, weil die Finanzierungsstrukturen
den neuen Gegebenheiten nicht angepasst sind.
Was halten Sie von den Meinungsumfragen, wonach die Einheitskasse in der Westschweiz angenommen, in der Deutschschweiz hingegen abgelehnt wird?
Das würde mich nicht erstaunen. Es ist bekannt, dass die Romandie und das Tessin in sozialen Fragen oft anders abstimmen als die deutsche Schweiz. Ich bin übrigens so gut wie sicher, dass die Initiative abgelehnt wird. Aber ich hoffe auf ein gutes Abschneiden in der Romandie, das zeigt, dass es sich um ein echtes Problem handelt – ein Problem, das nach der Abstimmung nicht gelöst ist. Die Debatte muss weitergehen: Man könnte sich beispielsweise eine Westschweizer, eine Tessiner und eine Deutschschweizer Kasse vorstellen – oder kantonale Kassen, die unabhängig voneinander arbeiten, aber eine gemeinsame Dachstruktur und eine
öffentliche Kontrolle haben. Eine
wesentliche Überlegung muss in die Debatte einfliessen: die Frage, ob die Prämienerhebung und die Auszahlung von Leistungen nicht voneinander
getrennt werden sollten wie etwa bei der AHV.
Was halten Sie, aus medizinischer Sicht, von den Bestrebungen von Bundesrat Pascal Couchepin, das AHV-Alter auf 67 zu erhöhen?
Ich bin gegen eine Erhöhung des Rentenalters, weil Menschen, die nicht auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit sind, sehr schnell fallen gelassen werden. Nicht das Alter zählt, sondern die Gesundheit. Jemand, der ein Leben lang auf dem Bau gearbeitet hat, hat vielleicht schon mit 55 Jahren nicht mehr genügend gesundheitliche Ressourcen. Wer in einem Verwaltungsrat arbeitet, wird das noch mit über siebzig brillant tun. Andere sind körperlich gesund, aber geistig ausgebrannt. Ein einheitliches AHV-Alter ist deshalb ein Unsinn. Wie bei der Krankenversicherung stellt sich jedoch die Frage nach einer Finanzierung, die der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt.
Sie haben offenbar, ihrem deutschschweizerischen Nachnamen zum Trotz, die Westschweizer Sensibilität in sozialen Fragen …
Ich bin ein echter Genfer wie alle Genfer, deren Eltern von auswärts gekommen sind. Mein Familienname kommt aus Bern, meine Eltern aus dem Jura, meine Grossmutter war Waadtländerin – ich bin eine typisch helvetische Mischung.
Weshalb sind Sie Arzt geworden?
Wer Arzt wird, muss ein Interesse am menschlichen Wesen haben, er muss Lust am Helfen haben. Das ist meine Grundmotivation. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, das meine technische Neugierde gefördert hat, so habe ich eine Disziplin gewählt, in der technische Fragen ebenfalls eine Rolle spielen.
Pierre-Alain Schneider ist Radiologe und Präsident der Genfer Ärztevereinigung AMG, einer Sektion der Vereinigung der Schweizer Ärzte und Ärztinnen (FMH).