Durch den Monat mit Marina Belobrovaja (Teil 3): Wer stellt hier die Fragen?

Nr. 34 –

Neun Tage sind seit dem Ende von Marina Belobrovajas sechstägiger Performance «Öffentliche Abschiebung» am Zürcher Helvetiaplatz vergangen. Ihre Aufforderung «Sehr geehrte Damen und Herren, meine Aufenthaltsbewilligung läuft am 21. August [2007] ab. Leider besitze ich keinen Führerschein. Bitte helfen Sie mir, mich auszuschaffen. Tun Sie 
etwas Gutes für Ihr Land!» hat für Aufsehen und Verwirrung gesorgt.

Marina Belobrovaja: «Und was hat die Aktion bei Ihnen ausgelöst?


Mo, 20. August, 18 Uhr

Adrian Riklin, WOZ: Morgen läuft Ihre Aufenthaltsbewilligung ab. 
Was hat die Aktion in Ihrer persönlichen Situation bewirkt?

Marina Belobrovaja: Ich würde das als einen emanzipatorischen Prozess bezeichnen. Durch die Aktion gelang es mir, ein bisher persönliches Problem end
lich offen zu artikulieren, es mit künstlerischen Mitteln von meiner Person zu abstrahieren und als Teil eines globalen Phänomens erfahrbar zu machen.

Riklin: Würden Sie die Aktion als gelungen bezeichnen?

Belobrovaja: Meine Absicht war es, einen diskursiven Raum zu eröffnen, in dem jede, ganz unabhängig von ihren politischen Ansichten, agieren kann. Es ging nicht darum, mittels der Aktion politische Lösungen zu finden, sondern vorerst die etablierten Argumentationsweisen aller Beteiligten zu hinterfragen. Das scheint mir gelungen zu sein. Aber 
eigentlich sollte ich diese Frage an Sie richten:

Was hat denn die Aktion bei Ihnen ausgelöst?

Riklin: Die Konstellation hat mich anfänglich verwirrt: Wie gehe ich als Journalist damit um? Kann ich mich aus der Verantwortung ziehen, indem ich mich hinter dem journalistischen Notizblock verstecke? Wie verhindere ich eine kontraproduktive Wirkung?

Belobrovaja: Kontraproduktiv?

Riklin: Ich befürchtete, dass die bittere Ironie der Situation zu wenig 
rüberkommt. Dass die Aufforderung «Bitte helfen Sie mir, mich auszuschaffen» falsch aufgenommen wird. 
So im Sinn: Gut, wenn sie das will, dann machen wir das doch gleich mal!

Belobrovaja: Wie würden Sie 
denn Ihre Funktion im Rahmen der Performance definieren?

Riklin: Als die eines Vermittlers. Doch das fiel mir schwer. Manchmal wusste ich nicht: Bin ich nun ein 
Akteur – oder ein Betrachter der Aktion? 
Oder bin ich als Betrachter bereits ein Akteur? Bin ich jetzt Berichterstatter ausserhalb der Performance – oder 
Akteur innerhalb der Aktion? Wie reagiere ich, wenn einer kommt, der Sie wirklich über die Grenze fahren will? Bin ich dann der Journalist, der beschreibt – oder ein Beteiligter, der eingreift?

Belobrovaja: Als Journalist verfügten Sie ja bereits im Vorfeld über Informationen zur Aktion. Wie hat dieses Wissen Ihre Wahrnehmung beeinflusst?

Riklin: Hätte ich nichts davon gewusst und wäre nicht als Journalist 
darauf gestossen ..., ich wäre wohl kurz stehen geblieben und dann weitergegangen. Aus heiterem Himmel hätte mich die Konfrontation mit dieser Gleichzeitigkeit von realbiografischer Situation und künstlerischer Zuspitzung wohl überfordert.

Belobrovaja: Und was ging in Ihnen im Lauf der Woche vor?

Riklin: Es gab eine Klärung. Ich glaube, die Aktion hat insgesamt 
auf eine sehr gute Art auf die unhaltbare Situation von Menschen aus 
Drittstaaten aufmerksam gemacht und bei vielen direkt oder indirekt Involvierten einen Bewusstseinsprozess ausgelöst. So auch bei mir: Gerade durch die Gleichzeitigkeit von realer Biografie und künstlerischer Zuspitzung war ich gezwungen, mich konkret mit dem 
Thema zu beschäftigen – nicht nur theoretisch. Mir wurde klar: Es genügt nicht, gegen etwas zu sein, darüber zu reden und zu schreiben. Erst wenn 
ich mich einbringe, kann ich etwas bewirken.

Belobrovaja: Da sprechen Sie aber den Medien ihre meinungsbildende Kraft ab!

Riklin: So weit würde ich nicht gehen. Aber um als Medium, das doch eher gegen den Strom schwimmt, etwas bewegen zu können, braucht es neben analytischen Texten auch solche, die aus dem eigenen Erlebten kommen. Es genügt nicht, eine klare Position zu 
haben – diese Position muss einen Ausdruck finden. Das ist nur möglich, 
wenn der Impuls aus einer Betroffenheit kommt. Aber eigentlich bin ich 
ja der Journalist, der hier die Fragen stellt. Oder etwa nicht?

MARINA BELOBROVAJA, 1976 in Kiew ge
boren, studierte nach ihrer Emigration nach Israel (1990) ab 1995 Kunst an 
der Universität der Künste in Berlin sowie ab 2002 Kunst und Kunstvermittlung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Sie hat einen israelischen Pass. Ihre Aufenthaltsbewilligung ist am vergangenen Dienstag, dem 21. August [2007], abgelaufen.

Siehe auch die WOZ-Texte «Diese ganz besondere Paprika» vom September 2009 und «O du Justitia!» vom September 2011 .