Vor dem Final: Arshavin auf Sermak - Pavlyuchenko: Tor!

Nr. 26 –

Die Portugiesen starben in Schönheit. Die deutschen Tugenden verfolgen uns bis ins Grab. Fatih Terim hätte Schweizer Nationalcoach werden sollen. Italien? Raus. Bleiben die Russen mit ihrem Science-Fiction-Fussball.

Die Griechen waren schnell raus. Sie waren eine Karikatur ihrer selbst und der schlimmsten Defensivbefürchtungen der internationalen Sportpresse. Die Italiener sind auch raus. Ihre Viertelfinalleistung gegen Spanien grenzte an Unsportlichkeit. Für die stürmenden Spanier ist jetzt alles möglich. Die Schweiz? Nicht der Rede wert. Ausser vielleicht, dass der Verband nach dem WM-Barrage-Sieg 2005 über die Türkei den braven Jakob Kuhn hätte entlassen und ihn durch Fatih Terim ersetzen sollen.

Türkische Höhepunkte

Wenn diese WOZ erscheint, werden die Türken womöglich ausgeschieden sein.

Im Halbfinal trifft die Türkei auf Deutschland. Die abgeklärte Turniermannschaft kann in Bestformation auflaufen, während bei den Türken die halbe Mannschaft gesperrt ist. Trainer Fatih Terim spielte deshalb im Vorfeld mit dem Gedanken, den zweiten Ersatztorwart als Mittelstürmer auflaufen zu lassen.

Die Türken bescherten der EM drei dramaturgische Höhepunkte, sie gewannen gegen die Schweiz in der 92., gegen Tschechien in der 90. Minute, nachdem sie bis eine Viertelstunde vor Schluss 0:2 im Rückstand gelegen hatten. Und sie glichen im Viertelfinal gegen Kroatien in der 122. Minute aus. Pures Chaos als roter Faden: Der 35-jährige türkische Ersatztorwart Rüstü eilt in der 119. Minute, beim Stand von 0:0, planlos aus dem Tor und rennt bis an die seitliche Linie des Sechzehners dem Ball hinterher. Dort hebt der Kroate Luka Modric den Ball über ihn drüber. Dieser landet bei Ivan Klasnic, dem Stürmer mit der transplantierten Niere, der den Ball ins verwaiste Tor köpft. Das Tor in vorletzter Minute hätte den ersten EM-Halbfinal-Einzug Kroatiens bedeutet. Klasnic wäre ein Platz in den kroatischen Geschichtsbüchern sicher gewesen. Und Rüstü ein Platz in der türkischen Fussballhölle. Der Schiedsrichter zeigt eine Minute Nachspielzeit an. Die ist bereits vorbei, als der unglückliche Rüstü den Ball verzweifelt über das ganze Feld nach vorne drischt. Dieser landet auf dem Fuss von Semih. Wie auch bei seinem Verein Fenerbahce Istanbul kommt Semih in der Nationalmannschaft nur als Joker zum Einsatz. Als solcher aber trifft er oft, wurde vergangene Saison gar Torschützenkönig der türkischen Liga. Auch im Spiel gegen Kroatien war Semih erst spät eingewechselt worden. Jetzt, in den letzten Sekunden des Spiels, landet der Ball auf seinem Fuss; Semih dreht sich, umgeben von drei Kroaten, Richtung Tor, und schiesst. Der Ball ist drin.

Die Türken ziehen jubelnd, die Kroaten verwirrt und fluchend ins Elfmeterschiessen ein. Es findet statt beim Tor vor den türkischen Fans, wo anarchistische Anhänger von Besiktas Istanbul inmitten türkischer Nationalflaggen ein grosses Anarchiezeichen gehisst haben. Türkischer Jubel gegen kroatischen Fatalismus: Es ist der 25-Millionen-Euro-Mann Luka Modric, der als erster Kroate verschiesst. Als letzter scheitert Mladen Petric an Rüstü. Während die Türken feiern, geht Torwart Rüstü hinüber zu den Kroaten und umarmt jeden einzelnen.

Fatih Terim redet derweil in ein TV-Mikrofon, lobt das Spiel seiner Mannschaft, das während 119 Minuten ein lahmer Kick war, geprägt von beidseitiger Vorsicht, um nicht die Nerven zu verlieren. Terim sagt, ein Fussballspiel sei kein Menschenleben wert und appelliert an seine Landsleute in der Türkei, nicht aus Freude mit Gewehren in die Nacht hinaus zu schiessen. Es hilft nicht. In der Nacht nach dem Sieg über Kroatien trifft in Gaziantep ein Querschläger einen Mann tödlich im Kopf. Insgesamt sechzehn Menschen werden durch Freudenschüsse verletzt. Die Kroaten wiederum freuen sich nicht. Der deutsche Experte des Schweizer Fernsehens, Berti Vogts, hatte vor dem Spiel den «grossartigen Nationalismus der Kroaten» gelobt. In Mostar, der geteilten Hauptstadt der Herzegowina, kommt es nach Ende des Spiels wegen dieser Grossartigkeit zu schweren Ausschreitungen zwischen Anhängern Kroatiens und Bosniaken, die die Türkei unterstützten.

«Das macht uns so gefürchtet»

Kurz nach dem Elfmeterschiessen gegen die Türkei sitzt der kroatische Trainer Slaven Bilic auf der Trainerbank und raucht. Was gab es noch zu sagen? Bilic ist studierter Jurist, er ist auch Unicef-Botschafter, er spendete während des Krieges der kroatischen Armee 250000 Dollar, er spielte in der Halbzeitpause des Österreich-Spiels seiner Mannschaft ein Lied der kroatischen Pop-Faschistenband Thompson vor - Bilic versteht sich trotzdem als Linker. Jetzt sitzt er da und raucht und denkt darüber nach, wie er der BBC später sagt, sein Amt als Trainer niederzulegen und ein neues Leben als Rockgitarrist anzufangen. «Dieses Spiel wird uns alle unser Leben lang verfolgen.»

Sicher verfolgen, offenbar bis ins Grab, werden den Fussballfan die beschworenen deutschen Tugenden. Selbst nach einem Spiel, während dem der auf die Tribüne verbannte deutsche Trainer Joachim Löw Wein trinkt und Zigaretten raucht, kann ZDF-Experte Günter Netzer sagen: «Die deutschen Tugenden, die beherrschen wir Deutschen am Besten. Das macht uns so gefürchtet.» Und Berti Vogts sagt: «Respekt. Respekt vor einer grossen Nation!» Löw hatte unvermittelt von 4-4-2 auf 4-2-3-1 umgestellt; die etwas defensivere Variante verlieh der Mannschaft Energie und Kampfgeist. Aber auch Klasse: Podolski spielt auf der linken Seite einen Doppelpass mit Klose, direkt im Anschluss einen Doppelpass mit Ballack, flankt danach direkt auf Schweinsteiger - Tor. Ganz einfach. Die Portugiesen hatten die Deutschen unterschätzt und starben in Schönheit.

Der andere Favorit, Holland, starb am Samstag in Basel, überrannt und geschlagen mit der eigenen Offensivstrategie, mit der die Oranjes in den Gruppenspielen entzückten. Damit zu den Russen: Sie spielten im Viertelfinal gegen Holland Fussball wie aus der Zukunft. Antreiber Andrej Arshavin von Zenit St. Petersburg, der in den ersten beiden Gruppenspielen gesperrt war, dribbelt, flankt, schiesst unaufhörlich, ist nicht zu stoppen - bereits gegen Schweden spielten die Russen Konter wie aus dem Lehrbuch. Und dann gegen Holland: Beim 1:0 bekommt Arshavin den Ball im Mittelfeld, spielt ihn - ohne den Blick vom Ball zu nehmen - auf Sergei Sermak, der sich freigelaufen hat. Dieser flankt in die Mitte des Strafraums. Dort hämmert Stürmer Pavlyuchenko den Ball ins Netz.

«Der beste Holländer auf dem Platz war Gus Hiddink», sagt Arshavin später. Der holländische Trainer der Russen hatte seine Mannschaft derart offensiv ausgerichtet, dass sie auch gegen Holland atemberaubenden Tempofussball bot, statt sich gegen die Oranjes, die in der Gruppe neun Tore erzielt hatten, einzumauern. Die Russen spielten mit drei Stürmern. Alles Spieler, die hier unbekannt sind, weil sie mit nur einer Ausnahme alle in der abgeschotteten russischen Liga spielen.

Im zentralen Mittelfeld des 4-3-3-Systems 1:0-Torschütze Roman Pavlyuchenko, als hängender Aussenstürmer ein Mann namens Konstantin Zyrianov, der erst mit dreissig zur Form seines Lebens findet. Über Jahre war er in schwere Depressionen versunken, nachdem seine Frau vom Dach eines Moskauer Mietshauses in den Tod gesprungen war, im Arm die gemeinsame vierjährige Tochter.

Auf der anderen Seite der Offensivkette Antreiber Andrej Arshavin, das 27-jährige Bubengesicht, der interessanteste, wirbligste, beste Spieler dieser EM. Und obwohl ihre Spielpause nach der Gruppenphase kürzer war und obwohl sie kurz vor Schluss durch Ruud Van Nistelrooy den Ausgleich zum 1:1 kassieren, rennen die russischen Spieler in der Verlängerung weiter an. In der zweiten Halbzeit der Verlängerung dribbelt sich Arshavin auf der linken Seite durch drei Holländer hindurch und spielt einen genauen Pass auf Dimitri Torbinskij. Dieser rutscht mit dem Knie in den Ball und trifft zum 2:1.

Das alles entscheidende 3:1 erzielt Arshavin in der 116. Minute dann selbst. Der Sieg ist hochverdient und stellvertretend für diese EM: Die griechischen und italienischen Defensivmauern sind vorerst gefallen. Nastrovje!