Nestlégate: Spionin zum Dritten

Nr. 49 –

Hat Securitas die Spitzeltätigkeit im Auftrag von Nestlé wirklich eingestellt? Der Fall einer weiteren, vor kurzem enttarnten Spionin lässt daran zweifeln.


In der Affäre um die Infiltrierung von Securitas-Agentinnen in linke Gruppierungen komme es «voraussichtlich noch vor Weihnachten» zu einem ersten strafrechtlichen Entscheid, sagt der Waadtländer Untersuchungsrichter Jacques Antenen. Entschieden wird darüber, ob es zu einer formellen Anklageerhebung gegen die Beteiligten, darunter die Auftraggeberin Nestlé, kommen wird.

Jetzt ist bekannt geworden: Die globalisierungskritische Gruppe Attac-Vaud, deren «Arbeitsgruppe Multis» sich mit den Machenschaften von Nestlé befasst, wurde nicht nur von einer Agentin unterwandert, sondern von mindestens zwei. Die erste mit dem Decknamen Sara Meylan ist im Juni vom Westschweizer Fernsehen enttarnt worden - sie hatte die Gruppe im Sommer 2004 verlassen. Mitte November hat nun eine gewisse Sakura (Name geändert) der Gratiszeitung «Matin Bleu» gestanden, im Jahr 2005 für Securitas «etwa zehn Berichte über Attac-Vaud-Sitzungen» verfasst zu haben. Danach habe sie damit aufgehört, sei aber weiterhin in der Gruppe engagiert gewesen, da sie dort Freunde gewonnen habe.

Falsche FreundInnen

Béatrice Schmid von Attac-Vaud hat da grosse Zweifel: Ausserhalb der Sitzungen habe Sakura niemanden getroffen und auch an den Diskussionen während der Sitzungen habe sie sich kaum beteiligt. «Von einer entstandenen Freundschaft kann nicht die Rede sein», so die Aktivistin. «Noch bis Mai 2008 hat sie an Sitzungen teilgenommen, und sie war bis vor zwei Monaten auf unserem Mailverteiler.» Als im Juni die Nestlégate-Affäre ins Rollen kam, schickte Sakura ein Mail an ihre «FreundInnen», worin es hiess: «Das ist ein lächerliches Vorgehen, wir machen doch nichts Illegales.» Und: «Dieses Gefühl von Verrat und Missbrauch, das ihr fühlt, muss schrecklich sein.»

Der WOZ sagte Sakura, sie könne das Geschehene nicht rückgängig machen. «Das Ganze tut mir leid», so die enttarnte Spionin. Mehr wolle sie nicht sagen. Sakura war übrigens unter ihrem echten Namen auf Infiltrationsmission, ganz im Gegensatz zu Fanny Decreuze, ihrer Chefin bei den Investigation Services von Securitas, die unter dem Decknamen Shanti Muller die autonome Szene und TierrechtsaktivistInnen infiltriert hatte (siehe WOZ Nr. 37/08).

Vertraulicher Bericht aus Bern

Ab 2005, nach der Publikation eines Buches über Nestlé, hat sich die Attac-Arbeitsgruppe Multis hauptsächlich mit Nestlés Wasserprivatisierungspolitik befasst. Die Arbeitsgruppe habe mit Gruppen aus der halben Welt kommuniziert, sagt Béatrice Schmid. «Nestlé konnte dank Sakura Nestlé-kritische Netzwerke im In- und Ausland identifizieren und im Auge behalten.»

Dass den Multi die Opposition gegen seine Wassergeschäfte besonders beschäftigt, wird immer deutlicher. Über eine kritische Veranstaltung zu Nestlés Wasserprivatisierungspolitik vom 10. Oktober 2006 im Berner Käfigturm hat die Securitas einen «vertraulichen Bericht» verfasst, der in der Westschweizer «Tagesschau» vom 28. September 2008 zu sehen war. Der «Tagesschau»-Beitrag ist inzwischen aus dem Online-Archiv des Westschweizer Fernsehens entfernt worden. Es scheint sich beim Securitas-Bericht um eine umfangreiche Dokumentation der Redebeiträge zu handeln, ergänzt mit der Fotografie eines Referenten. An der Veranstaltung aufgetreten war auch der Aktivist Franklin Frederick aus Brasilien, für den sich bereits die erste Spionin Sara Meylan sehr interessiert hatte (siehe WOZ Nr. 35/08). Brisant am Dokument von 2006 ist aber vor allem das Datum. Securitas-Sprecher hatten zu Beginn der Affäre nämlich noch behauptet, Infiltrierungen habe es nur im Jahr 2003 anlässlich des G8-Gipfels von Evian gegeben. Später korrigierten sie diese Aussage und sagten, seit Ende 2005 gäbe es keine solchen Missionen mehr.

In der Westschweiz scheint niemand daran zu glauben, dass der gerade hier sehr mächtige Nahrungsmittelkonzern für seine Taten wird geradestehen müssen. Am wenigsten der Anwalt von Attac, Jean-Michel Dolivo: «Mit grösster Wahrscheinlichkeit wird das Strafverfahren eingestellt.» Dies zeichne sich schon länger ab, habe doch der Untersuchungsrichter Beweisanträge der KlägerInnen, etwa auf Bürodurchsuchungen, systematisch abgelehnt. «Und er attestiert den Firmen guten Kooperationswillen, obwohl sich deren Aussagen im Verfahren ständig widersprechen», so der Anwalt.


Alle WOZ-Artikel zur Securitas-Affäre jetzt im Online-Dossier «Nestlégate» .

Paranoia bei der Securitas

Die Enttarnung der dritten Securitas-Spionin (vgl. Artikel oben) dürfte zu hoher Nervosität in der Securitas-Gruppe führen. Dies zeigen interne Schreiben, die der WOZ vorliegen. Als im Juni das Westschweizer Fernsehen über die erste bei Attac-Vaud eingeschleuste Spionin berichtete, schickte die Kommunikationsabteilung der Securitas ein Informationsblatt an alle MitarbeiterInnen der Firma. Darin war von einer «Medienkampagne» die Rede, und es wurde betont, dass von der Securitas «seit 2003 solche Aktionen nicht mehr durchgeführt wurden, da die Situation es nicht erforderte». Eine Lüge, wie sich später herausstellen sollte.

Weiter griff die Securitas im selben Schreiben den Schweizerischen Polizeibeamtenverband VSPB an, da dieser die Infiltrationen durch Securitas öffentlich verurteilt hatte: Exponenten dieser Gewerkschaft würden seit Jahren kategorisch gegen jegliche Einsätze von privaten Diensten in öffentlichen Sicherheitsaufgaben kämpfen, heisst es: «Diese Stimmungsmache entfernt sich weit von der Schweizerischen Realität, wo behördliche und private Sicherheitsorgane eine gut etablierte und respektvolle Zusammenarbeit von öffentlichem Nutzen pflegen.»

Als dann im September die zweite Securitas-Agentin enttarnt wurde, bekam es die Securitas offenbar mit der Angst zu tun. In einem Schreiben an alle MitarbeiterInnen warnte sie vor «möglichen Angriffen extremer Kreise». Die interne Telefonzentrale wurde in Alarmbereitschaft versetzt, «Aussenkontrollen» an Securitas-Gebäuden hatten stündlich zu erfolgen, und Fahrzeuge durften nur in «geschützten Bereichen» parkiert werden.

Kadermitglieder wurden separat gewarnt: «Keine Führungsperson soll sich zu diesen Fällen äussern oder eine persönliche Meinung kundtun.» Zudem erhielten sämtliche MitarbeiterInnen die Anweisung, «alle Kundenreaktionen und/oder -bemerkungen unmittelbar mitzuteilen». Wie diese ausgefallen sind, mag Urs Stadler, Mediensprecher der Securitas, nicht kommentieren. Ebenso wenig, ob KundInnen abgesprungen sind. In mindestens zwei Fällen ist dies geschehen: Greenpeace und die Unia Region Bern lassen ihre Gebäude künftig nicht mehr von der Securitas bewachen.