Die Krise in der Kantine (1): Wenn der Faden reisst

Nr. 3 –

Die Textilmaschinenfabrik Benninger in Uzwil hat bereits zahlreiche Angestellte entlassen und eine Abteilung verkauft.


Ernst Gabathuler, 55, betritt die «Harmonie» in Uzwil. Die Beiz liegt an der Hauptstrasse, gleich oberhalb vom Areal der Firma Benninger. «Schon Feierabend, Ernst?», fragen zwei im Übergwändli. «Ich habe schon den ganzen Monat Feierabend», sagt Gabathuler.

«Die Textilbranche spürt die Krise immer zuerst. Das hat damit zu tun, dass die Branche sehr flexibel ist. Der Auftragshorizont ist kurz: Eine Maschine ist in einem Monat montiert. Und der Textilvorrat ist gross. Man könnte sagen: Bei uns reisst der Faden zuerst. Ich arbeite seit 38 Jahren als Monteur beim Benninger, ich habe hier schon meine Lehre gemacht. Beim Benninger stellen wir Webereivorbereitungs- und Veredlungsmaschinen her. Ich sage immer: Wir sind nicht ganz die Webstübler. Aber fast. Wir sind die bekannteste Firma in Europa in diesem Bereich.

Vor einem Jahr machten wir noch Überstunden. Ab letztem Sommer brachen die Aufträge ein. Den Ausschlag gab, dass die Weltbank den Riegel schob. Im fernen Osten und in Südamerika fehlen seither die Kredite, um unsere Maschinen zu kaufen. Die ersten siebzehn Entlassungen wurden im Juli ausgesprochen. Dann musste die Überzeit kompensiert werden. Im November wurde 45 weiteren Kollegen gekündigt. Getroffen hat es zuerst die Älteren. Man riet ihnen zur Frühpensionierung. Dann waren die Singles an der Reihe. Jetzt, im Januar, wird in meiner Abteilung, den Webereivorbereitungsmaschinen, zu hundert Prozent Kurzarbeit geleistet. Das heisst, die Maschinen stehen still. Wir mit den dreckigen Händen bleiben zu Hause. Nur die Bürolisten sind noch da. Sie bemühen sich, neue Aufträge hereinzuholen.

Der Benninger bestand früher aus zwei Teilen: der Giesserei und den Textilmaschinen. Vor zwei Jahren hat der Besitzer Charles Peter die Textilmaschinen an die UBS-Beteiligungsgesellschaft Capvis verkauft. Eugen Peter, der Vater von Charles, hatte den Gewinn jeweilen in die Firma investiert. Der war noch ein Patron! Lief durch die Bude und gab jedem den Weihnachtsgruss. Charles Peter hat den Gewinn nur ins eigene Portemonnaie gesteckt. Wohin ihn schliesslich die UBS-Tochter gesteckt hat - das weiss kein Mensch. Selbst der traditionelle Skitag wurde gestrichen. Im Herbst wurde meine Abteilung, 110 Mitarbeiter, nach Deutschland verkauft, an unseren wichtigsten Konkurrenten. Damit ist aber auch eine kleine Hoffnung verbunden: Der neue Eigentümer, die Karl Meyer AG, ist ein Familienbetrieb. So wie früher der Benninger.

Wie es meinen Kollegen geht? Wir haben im Moment keinen Kontakt untereinander. Manchmal sehe ich eine der Ehefrauen auf der Strasse. Sie erzählen, ihren Männern gehe es nicht gut, seelisch und moralisch. Ich selbst habe einen Nebenjob. Ich fülle Kaffeeautomaten auf. Von einem anderen habe ich gehört, dass er im Wald einem Förster hilft. Hauptsache, man hat etwas zu tun, sitzt nicht zu Hause rum.

Ich habe nun auch Zeit, den Jahresplan für die Gewerkschaft zu machen. Viele Kollegen fluchen über die Mitgliederbeiträge, sie brauchen das Geld lieber für Ferien. Die kommen wohl erst zur Gewerkschaft, wenn die Krise riesengross ist. Ich habe mich immer für unsere Rechte eingesetzt. Der Sozialplan für die Entlassenen beispielsweise wäre ohne die Gewerkschaften nicht zustande gekommen.

Ich bleibe zuversichtlich. Man denkt schnell ans Schlechteste. Und so schlimm wie jetzt war die Situation tatsächlich noch nie. Aber warum soll es nicht gut kommen? In den 38 Jahren habe ich schon manches erlebt.»

Ernst Gabathuler muss weiter, Kaffee auffüllen.


Serie Kantinengespräche

Die Zeitungen sind voll mit abstrakten Analysen der Finanzkrise und ihres Niederschlags in der sogenannten Realwirtschaft. Im neuen Jahr wählt die WOZ den Blick von unten und besucht Kantinen, Pausenräume und Beizen in und bei Fabriken und Betrieben. In loser Folge wollen wir mit den Angestellten sprechen: Wie verändert sich ihr Arbeitsalltag? Wo spüren sie die Krise persönlich?