Die Krise in der Kantine (8): Als schlanke Braut zur Post

Nr. 20 –

Silvia Sigrist verträgt seit Jahren Zeitungen für die Zuvo AG, die Tamedia und NZZ gehört. Die Firma will 2261 MitarbeiterInnen die Löhne massiv kürzen.


Ich bin seit sieben Jahren Verträgerin und stelle in Winterthur um den Bahnhof herum sechsmal pro Woche Zeitungen zu. Auf meiner Route befinden sich auch alle Nachtclubs und die Drogenanlaufstelle. Am Samstagmorgen ist das Zeitungsvertragen beinahe eine Nebensächlichkeit, oftmals werde ich von Nachtschwärmern, die sogenannt auf dem Aff sind, bedroht, auch schon mit Lastwagenketten.

Seitdem ich bei der Zuvo AG arbeite, gab es einen Lohnabbau nach dem anderen. Zu Beginn, als ich nur den «Tagi» und die NZZ verteilen musste, verdiente ich noch 2500 Franken, doch der Lohn wurde immer wieder gekürzt. Jetzt verdiene ich noch 1200 Franken. Zudem vertrage ich jetzt neben der NZZ und dem «Tagi» auch noch den «Landboten». An vier Tagen habe ich weniger als die bezahlten neunzig Minuten, dienstags und mittwochs habe ich für den Grossversand aber länger. Man muss den Kopf zusammen haben, da wir auch noch die «annabelle», die «Schweizer Familie», die «Weltwoche» und «Finanz und Wirtschaft» verteilen. So haben wir jede Nacht ein anderes Programm.

Meine Arbeit sieht folgendermassen aus: Ich stehe um zehn vor zwei auf und bin um fünf nach zwei bereits im Depot, um die Zeitungen abzuholen. Dann verteile ich die Zeitungen mit meinem Privatauto. Um vier bin ich dann wieder zu Hause, gehe kurz schlafen und stehe um halb acht Uhr wieder auf, da ich tagsüber in einer Hundeschule arbeite. Nach zehn gehe ich dann wieder schlafen, und nachmittags arbeite ich wieder an der Hundeschule. Ich verteile meinen Schlaf also auf drei Mal. Meine Arbeit als Zeitungsverträgerin gefällt mir eigentlich, doch mit den ständigen Lohnkürzungen und den Umstrukturierungen vergeht mir so langsam die Lust.

Die Zuvo AG entstand aus einer Zusammenarbeit der Tamedia und der NZZ. Die Post will jetzt 75 Prozent des Unternehmens kaufen. Die Löhne sollen deshalb vor dem Verkauf noch gedrückt werden, damit sich später die Post nicht selber die Hände dreckig machen muss. Oder wie es unser Geschäftsleiter ausdrückt: Die Zuvo AG soll als schlanke Braut zur Post gehen. Wir werden wohl nicht in den Gesamtarbeitsvertrag der Post kommen, obwohl die Gewerkschaften Kommunikation und Comedia uns helfen. Wir brauchen die Gewerkschaften, um Säle zu mieten und Flyer zu drucken. Praktisch alle 2500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zuvo stehen hinter unserem Lohnkampf. Wir brauchen die Gewerkschaften auch, um streiken zu können. Denn wenn wir einfach so streiken würden, wäre es Arbeitsverweigerung. Ich war vorher nicht gewerkschaftlich organisiert, komme aus einer Rotarierfamilie. Ich musste mich zuerst an den Ton gewöhnen, den die Gewerkschaften anschlagen, da bin ich noch Lehrling. Wir sind aber von uns aus auf die Gewerkschaften zugegangen, da wir sie unbedingt brauchen.

Was mir Kummer macht? Was passiert mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Einige bessern sich ihre viel zu tiefen AHV- oder IV-Renten auf, gehen beinahe mit dem Rolli Zeitungen vertragen. Alles also in Anführungszeichen Sozialfälle, die sich selber über Wasser halten. Mit den neuen Löhnen geht das nicht mehr, die werden dann sogenannt armengenössig. Es gibt auch viele alleinerziehende Mütter, die das Geld brauchen, um ihre Kinder durchzubringen. Bei allen ist es ein Nebenerwerb, viele haben einen anderen Job und vertragen zusätzlich Zeitungen, um einigermassen durchzukommen. Wir sind die untersten in der Hierarchie, praktisch alle brauchen das Geld unbedingt, und viele werden sich auch nicht wehren, weil sie Angst vor einer Kündigung haben. Neu sollen wir für sechzehn oder siebzehn Fränkli pro Stunde arbeiten. Wir haben deshalb eine erste Vollversammlung organisiert, um dagegen zu kämpfen. Zudem haben wir Veranstaltungen in Zürich, Winterthur und St. Gallen organisiert, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu orientieren.

Ich hoffe, wir können diesen Kampf gewinnen, denn ich möchte meine Arbeit nicht missen: Ich kenne meine Abonnentinnen und Abonnenten, bin ständig unterwegs, die Vögel zwitschern, und die Strassen sind leer. Und wenn es regnet, werde ich von den Nachtmenschen auch mal zu einem Tee eingeladen.


Serie Kantinengespräche

Die Zeitungen sind voll mit abstrakten Analysen der Finanzkrise und ihres Niederschlags in der sogenannten Realwirtschaft. Die WOZ wählt den Blick von unten und besucht Kantinen, Pausenräume und Beizen in und bei Fabriken und Betrieben. In loser Folge sprechen wir mit den Angestellten: Wie verändert sich ihr Arbeitsalltag? Wo spüren sie die Krise persönlich?