Die Krise in der Kantine (7): Blaue Lippen, rote Nasen
Noch ist der Kelch an Banker P. vorübergegangen, er hat seine Probezeit bestanden. Falls er doch den Job verliert, will er zurück an die Uni.
P. steht bereits am Tresen, als ich die kleine Bar betrete. Er trägt ein blaues Hemd, mit lichtgrauem Karomuster, in der Hand eine Zigarette, vor sich einen Milchkaffee. «Was ich genau mache? Asset-Management, also Vermögensverwaltung. Man könnte sagen: Ich zocke mit fremdem Geld ...»
P. hat keine klassische Bänklerkarriere hinter sich. Statt einer Banklehre machte er die Matura, sammelte danach erste Erfahrungen bei einer Bank und ging später an die Uni. Er studierte an der Philosophischen Fakultät. Jetzt ist P. bei einer Schweizer Grossbank gelandet, zuvor arbeitete er bei einer Bank im Ausland. «Dort half ich mit, das Asset-Management aufzubauen - zentralisieren, klarere Prozesse schaffen. Aber das war nicht ganz einfach, der Chef mühsam, und es gab grosse Widerstände. Vor allem von denen, die schon länger da waren. Ihnen lag nicht viel an transparenten Prozessen.» Dann erhielt P. ein Jobangebot aus der Schweiz. «Bis dahin musste ich vor allem sicherstellen, dass der Manager nicht mit der Kohle abhauen kann. Betrugsfälle, solche Sachen. Das passiert zwar nicht so oft, wie man meint. Aber gerade jetzt, wo Betrüger wie Madoff aufgeflogen sind, merken viele: Ups! Wir müssen vorsichtiger sein.»
Der junge Banker nahm das neue Angebot gerne an. «Hier bin ich am richtigen Ort: am Geld. Hier kann ich zocken, auf den Finanzmärkten spielen - nicht hirnlos draufloswetten, ich weiss schon, was ich mache. Das tönt vielleicht naiv oder auch fahrlässig, aber es stimmt. Die andere Stelle liess mein Herz kalt, ich war zu weit weg von den Märkten.
Wenn seine Lippen nicht gerade an einer Zigarette kleben, sind sie ständig in Bewegung. P. spricht schnell, klar und deutlich. Er weiss, dass in seiner Branche vieles schiefläuft. «Manchmal, wenn ich Geschichten von Kollegen höre, haut es mich um. Natürlich werden jetzt die Spesen nicht mehr so aufgebläht wie auch schon. Aber ein Kumpel erzählte mir kürzlich, dass sein Chef mehrmals die Woche mit blauen Lippen und roter Nase vom Mittagessen zurückkehrt - in absolut unbrauchbarem Zustand. Da dauert ein Mittagessen schon mal von 11 bis 15 Uhr - und am Schluss zückt der Chef die Karte seiner Bank und bezahlt.»
Es gebe halt Banker und Banker, sagt P. Und wenn er vom «Zocken» spricht, will er damit nicht angeben, sondern die Sache beim Namen nennen.
Und was hält er von den Vorgängen bei der UBS? Bankgeheimnis, Kundendaten, Geldabflüsse? «Als ich gehört habe, dass die UBS über 200 Kundendaten rausrückte, war ich sprachlos. Unglaublich! Wenn ich ein amerikanischer UBS-Kunde gewesen wäre, der seine Kohle nicht versteuert hat - ich wär am nächsten Morgen in die Schweiz geflogen, hätte mein Geld abgehoben und irgendwo versteckt. Notfalls bar in ein Depot eingeschlossen. Oder Goldbarren. Goldbarren sind immer gut. Und dann ab ins Schliessfach.» Was bei der UBS passiert sei, sei ungeheuerlich. «Aus Sicht des Kunden geht das überhaupt nicht. Am 5. Mai kommen offiziell die ersten Quartalszahlen raus. Ich sage nur eins: Am Vorabend verkaufe ich die UBS-Aktien. Alle. Wenn sie bis dann nicht schon runter auf drei Franken sind. Die UBS hat noch viel Scheisse am Bein. Das wird ein Debakel.» Kann die UBS bankrottgehen? «Wenn alles schiefläuft ... Aber machen wir uns nichts vor: Wenn das tatsächlich geschieht, wenn die UBS vor dem Konkurs steht, dann kommt der Staat und übernimmt sie.»
Die UBS hat an der Generalversammlung angekündigt, über zehn Prozent ihrer Stellen abzubauen, fast 9000 Entlassungen stehen bevor, 2500 allein in der Schweiz. «Zurzeit ist es wirklich hart. Ich habe meine Stelle noch nicht lange. Und überall hört man von Entlassungen. Immerhin: Meine Probezeit ist vorbei. Aber lustig ist es derzeit nicht. Gerade kürzlich haben sie einen Kollegen freigestellt. Sie haben ihn nicht entlassen, weil er ein Affe ist oder weil er nichts kann. Sondern eigentlich, weil wir jemand Neues brauchten. Und im Moment heisst es «headcount freeze», keine neue Anstellungen. Also musste zuerst jemand gehen, damit jemand anderes kommen konnte. Diesmal hatte ich Glück. Aber natürlich bekam ich vor allem in der Probezeit Bammel. Beim Einstellungsgespräch klotzt man ja auch - und dann musst du die Leistung wirklich bringen, sonst bist du schnell weg. Ich habe mir gesagt: Wenn sie mich rauswerfen, dann bin ich halt weg. Aber so einfach ist das eben nicht, in Kürze einen neuen Job zu finden. Und dann sind da noch die hohe Steuerrechnung, die Fixkosten, weil du bisher so gut verdient hast. Dann wird es ganz schnell schwierig - ich war zum ersten Mal in meinem Leben mit Jobunsicherheit konfrontiert.»
Am Tag nach bestandener Probezeit hat P., wie das üblich ist, mit einem Apéro gefeiert. «Wenn sie mich jetzt noch entlassen, dann ist das zwar beschissen. Aber dann habe ich wenigstens noch drei Monate, die mir die Bank zahlt, und die Chance, eine neue Stelle zu suchen. Aber ich weiss auch, dass ich nicht mehr so viel verdienen werde. Denn ich bin zurzeit nicht in der Position, in der ich Forderungen stellen kann. Aber ich finde schon irgendetwas. Und im schlimmsten Fall gehe ich zurück an die Uni und schreibe meine Dissertation.»
Serie Kantinengespräche
Die Zeitungen sind voll mit abstrakten Analysen der Finanzkrise und ihres Niederschlags in der sogenannten Realwirtschaft. Im neuen Jahr wählt die WOZ den Blick von unten und besucht Kantinen, Pausenräume und Beizen in und bei Fabriken und Betrieben. In loser Folge wollen wir mit den Angestellten sprechen: Wie verändert sich ihr Arbeitsalltag? Wo spüren sie die Krise persönlich?