Das Massaker von Utöya: Die Ermordung der Eigenen

Nr. 31 –


Nach dem Bombenanschlag in Oslo und dem anschliessenden Massaker auf der Ferieninsel Utöya hiess es anfänglich, Anders Behring Breivik sei aus dem Nichts gekommen. Doch auch zwei Wochen später reisst der Schrecken nicht ab, lässt sich der Mörder nicht isoliert betrachten.

Um einen solchen Massenmord verhindern zu können, ist es wenig hilfreich, nach dem Täter und seinen Motiven zu fragen. Im simplen Fall führt das zur pathologisierenden Ferndiagnose, die in Breivik das Böse schlechthin sieht. Entscheidender ist es, nach seiner Tat zu fragen und nach den Elementen, aus denen sie sich zusammensetzt. Das Wichtigste dabei sind die Opfer: 77 Menschen haben ihr Leben verloren. Es handelte sich um NorwegerInnen. Vor allem um junge Linke.

Wäre dieses Massaker hier passiert, und es hätte angesichts der aktuellen Stimmung überall in Westeuropa passieren können: Jede und jeder von uns würde wohl ein Opfer kennen.

Wenn jetzt in der Schweiz von rechts die Opfer zu Tätern gemacht werden und behauptet wird, Norwegens Politik hätte die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst genommen, weshalb ein solches Massaker hier nicht passieren könne – dann darf man das getrost als verwirrt bezeichnen: Gegen die Arbeiterpartei werden in Norwegen derzeit Vorwürfe erhoben, dass sie unter dem Druck von rechts eine ausgrenzende Rhetorik gegen Minderheiten übernommen und die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus ihrer Jugendorganisation überlassen habe (vgl. Seite 7 der Printausgabe).

«Linke, Nette und Experten»

Das zweite wichtige Element der Tat ist ihr historischer Kontext: Es ist der Rechtspopulismus, der sich im letzten Jahrzehnt in Europa so weit verbreitete, wie Breiviks zusammenkopiertes Manifest lang wurde. Der gemeinsame Nenner dieser Politik lautet, dass eine «Islamisierung» Europas drohe. Ein historischer Vergleich dieses Antiislamismus drängt sich am ehesten mit dem Antikommunismus auf: Auch dieser konstruierte ein diffuses Feindbild von aussen – das letztlich gegen innen zielte.

In der Schweiz wurden am Ende des Ersten Weltkriegs drei Arbeiter beim Generalstreik von der Armee erschossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die Überwachung des inneren Feinds zum labyrinthischen Fichenstaat, der mit Berufsverboten existenzielle Folgen hatte. SchweizerInnen wie AusländerInnen waren betroffen.

Das andere, Fremde, Böse, das von aussen kommt, und die angeblichen Helfershelfer oder Schwächlinge, die es hereinlassen: Beide lassen sich real nur im Innern finden, unter den Anwesenden.

Heute erscheinen die Linken, wie im Manifest von Massenmörder Breivik, als Türöffner für MuslimInnen und überhaupt alles Fremde. In Inseraten der SVP hiess es diesen Sommer: «Das wollen Linke, Nette und Experten: Ivan S. soll weiter vergewaltigen.» Die Hasskampagnen der Partei sind austauschbar, ob sie mit Schafen, Ratten oder Ungeziefer die Hemmschwelle senken: Es geht gegen die Andersdenkenden.

Beschädigt wird dabei der gemeinsame Staat: Die Minarettinitiative und die Ausschaffungsinitiative haben gegen die Gleichbehandlung und die Verhältnismässigkeit verstossen. Sie haben die Diskriminierung in der Verfassung festgeschrieben. Dabei wurden Grundsätze des Rechtsstaats angegriffen, die nicht verhandelbar sind. Das Parlament hätte diese Initiativen verbieten müssen, doch dazu fehlte ihm der Mut.

Die Schweizer Hassspirale

Mitten in der Diskussion über die Folgen des Massakers von Oslo verschickt die SVP unverfroren Unterschriftenbogen für die nächste Initiative: Demnach soll der Bundesrat jährlich ein Kontingent festlegen, wie viele AusländerInnen in der Schweiz einer Arbeit nachgehen dürfen. Das würde der Partei jedes Jahr von Neuem erlauben, zu agitieren und zu behaupten, dass die Kontingente zu hoch seien. Und die Hassspirale würde sich weiter drehen.

Sie muss dringend gestoppt werden. Auf die Unsicherheit der Wirtschaftskrise darf die Antwort nicht Fremdenhass sein, sondern Solidarität. Das gelingt nur, wenn nicht länger jedes Problem des sozialen Zusammenlebens bis hin zum Atomausstieg mit der Ausländerfarbe angestrichen wird. Nicht die «Fremden» sind das Problem, sondern die fremdenfeindlichen Äusserungen.

Wer das sagt, kriegt häufig zu hören: Du schaust der Realität nicht in die Augen, du hast ein Tabu. Wir konnten der Realität gerade brutal in die Augen blicken. Das grösste Tabu in Europa und der Schweiz ist die grassierende Fremdenfeindlichkeit. DemokratInnen wählen keine SVP.

Linke Politik versucht, das «Eigene» und das «andere» als Konstruktion zu durchbrechen. Sie sagt: Es geht um die Teilhabe aller an der Demokratie und am Wohlstand. Gut vorstellbar, dass die Jugendlichen auf Utöya darüber gesprochen haben, als der Massenmörder, verkleidet als Polizist, die Insel betrat.