Durch den Monat mit Seraina Rohrer (Teil 3): Was haben Sie in Los Angeles gemacht?

Nr. 33 –

Im Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA beschäftigte sich 
Seraina Rohrer mit Low-Budget-Filmen, die für den spanischsprechenden Markt produziert werden und die insbesondere bei in den USA 
lebenden MigrantInnen aus Lateinamerika grossen Anklang finden.

Seraina Rohrer: «Was ich positiv erlebt habe, ist die Spontaneität. Ich war bei einem Dreh dabei, als Schauspieler fehlten. Da holte sich das Filmteam die Protagonisten auf der Strasse.»

WOZ: Seraina Rohrer, Sie haben Filmwissenschaft studiert, am Filmfestival Locarno im Pressebüro gearbeitet, und nun sind Sie die neue Leiterin der Solothurner Filmtage geworden. Woher stammt Ihre Leidenschaft für den Film?
Seraina Rohrer: Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen und konnte zu Hause nie Filme schauen. Mit neun Jahren hab ich dann entdeckt, dass meine Eltern einen Fernseher haben – versteckt in einem Schrank. Eines Tages spielte meine Mutter mir und meinen Geschwistern eine Videokassette mit einem Disney-Trickfilm ab. Dummerweise stoppte die Aufnahme mitten in einer dramatischen Szene. Wir heulten, denn wir wussten nicht, dass Disney-Filme immer ein Happy End haben. Damals erlebte ich erstmals, welch intensive Emotionen Filme auslösen können.

Haben Sie sich deswegen später entschieden, Film zu studieren?
Mit dreizehn Jahren lernte ich meinen jetzigen Partner kennen, er war ein grosser Filmfan. Zusammen schauten wir uns viele Filme an, und das Kino wurde meine grosse Leidenschaft. Irgendwann kam der Wunsch, aus dieser Passion mehr zu machen, und ich entschied mich, Filmwissenschaft zu studieren. Ich wollte nie selbst Filme machen, vielmehr faszinierten mich die filmischen Darstellungen von Geschichten und die Praktiken rund um den Film. Was macht man mit Filmen im Leben? Was lösen sie in der Gesellschaft aus? Da liegt auch der Fokus meiner Dissertation, in der ich mich mit der Produktion von Low-Budget-Filmen beschäftige.

Für Ihre Dissertation haben Sie während eines Jahres in Los Angeles gelebt. Was haben Sie dort gemacht?
Ich habe Filmemacher, Produzenten und Zuschauer in Los Angeles und in Mexiko interviewt und Sets besucht, an denen Low-Budget-Filme gedreht wurden. Im Gegensatz zu den achtziger Jahren werden heute die meisten Low-Budget-Filme in Los Angeles hergestellt. Die gesetzlichen Bestimmungen sind in den USA für mexikanische Produzenten weniger streng. Viele Filme werden mit extrem wenig Geld und unter Arbeitsbedingungen, die an Ausbeutung grenzen, produziert. Man kann mit einer reduzierten Crew drehen. In Mexiko sind die Gewerkschaften sehr einflussreich und legen fest, wie viele Leute auf dem Set arbeiten müssen.

Worum geht es in diesen Filmen, gibt es klassische Geschichten?
Ja, es gibt vier Grundstorys oder vier Genres: Das erste ist der Musical-Softporno-Film. Diese Filme sind super amüsant: Corrido-Bands erzählen singend und auf einfache Weise, was das Volk bewegt: Helden-, Kriminal- und Liebesgeschichten, dazu tanzen leichtbekleidete Frauen und Männer. In diesen Filmen gibt es auch immer einen klischiert dargestellten Schwulen. Das zweite Genre ist der Border-Actionfilm. Hier kommen lateinamerikanische Migranten über die Grenze in die USA, werden in Drogenkartelle verstrickt, es gibt Schiessereien, viele sterben, und einer überlebt als Held. Das dritte Genre ist der Luchadores-Film. Diese Filme bestehen aus sehr langen Wrestlingsequenzen, in denen immer ein Guter gegen einen Bösen kämpft. Es sind stets Männer, die sich für die Unterschicht starkmachen. Das vierte Genre ist die Slapstickkomödie. Die sind völlig überdreht, alle paar Sekunden bietet jemand einen Gag dar. Auch hier ist das Thema «Migration» oft zentral.

Sind diese Filme denn in den Kinos der USA zu sehen?
Bis Ende er achtziger Jahre schon, da gab es in den USA einen riesigen Markt für die­se billig produzierten Filme. Im Kino ging es dann ganz anders zu und her, als wir es hierzulande gewohnt sind: Die Leute kamen rein und gingen raus, wie es ihnen gerade passte, während der Vorführung wurde geredet, mitgesungen, häufig spielte vor der Vorführung noch eine Band, oder es gab eine Karaokeshow. Kinos in den USA waren ein Begegnungsort der latein­amerikanischen Migranten. Häufig gab es mitten im Kinosaal zudem auch noch einen Stand mit Rechtsberatung für die Zuwanderer. Mit der Einführung von repressiven Migrationsgesetzen im Jahr 1986 wurden in den Kinos vermehrt Razzien durchgeführt. Deswegen gingen die Migranten seltener ins Kino, und die Filmvorführungen verlagerten sich ins Wohnzimmer.

Hat Ihre Forschung in Los Angeles zu Erkenntnissen geführt, die auf die Schweizer Filmproduktion übertragbar sind?
Grundsätzlich sind es völlig unterschiedliche Filmkulturen und Filmmärkte, von daher ist ein Vergleich schwierig. Ein Fazit bleibt: Man kann Filme auch ohne Fördergelder machen. Aber das ist eine grauenhafte Feststellung, und sie stimmt nicht ganz: Denn solch miese Arbeitsbedingungen, wie sie dort herrschen, will man ja niemandem zumuten. Was ich jedoch bei den Produktionen positiv erlebt habe, ist die Spontaneität. Ich war bei einem Dreh dabei, als Schauspieler fehlten. Da holte sich das Filmteam die Protagonisten auf der Strasse. Das ist natürlich ein Risiko, und es kann gut oder schlecht rauskommen. Aber Spontaneität finde ich grundsätzlich gut – und die fehlt der Schweizer Filmbranche ein bisschen.

Seraina Rohrer (33) ist die neue Leiterin der Solothurner Filmtage. Ihre Dissertation wird voraussichtlich 2012 in englischer Sprache erscheinen.