Sexismusdebatte: Kaiser ohne Dekolleté

Nr. 7 –

Wenn alles gut geht, erleben wir gerade die Abwertung eines längst überfälligen Modells von Maskulinität. Das ist noch lange kein Grund zum Zurücklehnen: Es bleibt zu beobachten, mit welchen neuen Machtinstrumenten der «Kampf der Geschlechter» weitergeht.

In seinem Buch «Eine Frage der Ehre» von 2011 stellt der britische Philosoph Kwame Anthony Appiah eine eigenwillige These auf: Moralische Revolutionen werden nie durch Argumente ausgelöst, sondern schlicht und einfach, weil Ehrbegriffe sich ändern. Als historisches Beispiel führt er unter anderem das Aussterben des Duells Ende des 19. Jahrhunderts an. Die beliebte Pistolenpraxis unter Gentlemen endete – trotz des rechtlichen Verbots – erst, als niedere Schichten sie nachahmten und der mit dem Duell verbundene Ehrenkodex lächerlich wurde.

Einen ähnlichen Prozess beschreibt Appiah für die chinesische Mode des Füssebindens und für die Sklaverei. Immer waren Argumente gegen das grausame Unrecht lange bekannt und akzeptiert, bevor es endgültig mit ihm zu Ende ging. Was letztlich zum Umschlag führte, seien immer Motive der Ehre gewesen. Denn die Furcht vor Prestigeverlust, Lächerlichkeit und schlechtem Ansehen sind wirksamer als jedes rationale Argument. Moral und Vernunft allein machen keine Revolution.

Nichts ist neu

Angesichts der breiten Sexismusdebatte, die in den letzten Wochen vor allem die deutsche Öffentlichkeit auf Trab hielt, könnte man meinen, Appiah habe recht. Kritik an Sexismus scheint eine Frage der Ehre und des Stils geworden zu sein. Gute Zeiten für die Moral.

«Sie können wirklich ein Dirndl ausfüllen», hatte der 67-jährige FDP-Spitzenpolitiker Rainer Brüderle das Dekolleté der 28-jährigen Journalistin Laura Himmelreich kommentiert. Das war vor gut einem Jahr, und das Annäherungsbegehren des älteren Herrn ging auch noch etwas weiter. Laut Himmelreich soll er ihr seine Tanzkarte angeboten haben.

Nun aber hat die Veröffentlichung von Brüderles Stammtischbemerkungen im «Stern» Ende Januar, gepaart mit der von Anne Wizorek lancierten Aktion «#aufschrei», die 80 000 Tweets und Retweets auslöste, etwas ergeben, das sich fast schon wie eine Revolution anfühlt. Nichts ist inhaltlich neu. Es gibt keine weitere Erkenntnis in Sachen Sexismus, keine Analyse, die dem bereits Gewussten irgendetwas hinzufügt. Anzügliche Anmache, sexuelle Anspielungen finden immer und überall statt, fast jede Frau kann davon berichten. Das wissen wir, auch als offen ausgesprochene Tatsache, seit vor mehr als vierzig Jahren die zweite Frauenbewegung Sexismus zum Thema machte. Plötzlich aber scheint sich etwas verändert zu haben: Neu ist, dass sich so viele Frauen zu Wort melden, dass sie wütend sind und dass sie ein Echo erzeugen. Der Herrenwitz ist derselbe geblieben, aber jetzt lacht darüber die andere Seite. Und sie empört sich, endlich.

Die deutschen Medien treiben gern in grosser Erregung alle vierzehn Tage eine neue Sau durchs Debattendorf. Das war jüngst mit der Causa Brüderle nicht anders. Auch diese Kaskade hatte den typisch flatterigen Ton, mit dem die Medien nacheinander «auf das Thema aufspringen» und sich dann extensiv gegenseitig kommentieren bis zum Exitus. Es wurden auch alle möglichen Positionen noch einmal durchgespielt. Da waren Herren, die sich selbst sexistisch angegangen fühlten, wie der FDP-Politiker Dirk Niebel. Da waren Frauen, die finden, dass Frauen sich nicht so anstellen sollen, schliesslich könne sich jede auch alleine gegen verbale Übergriffe wehren, wie die Autorin Cora Stephan. Man befürchtete auch US-amerikanische Political-Correctness-Zustände und einen neuen Puritanismus.

Auslaufmodell Herrenreiter

Insgesamt aber spiegelte die Debatte auch etwas beruhigend Abgeklärtes. Denn es wurde ja nicht ein neues Thema angestossen, sondern ein altes weitergeführt. Einige Artikel, etwa in der «Süddeutschen Zeitung», wirkten daher eher wie das Resümee einer langen Auseinandersetzung, die sich über einige grundlegende Punkte sehr klar ist und diese auch nicht mehr gross debattieren muss: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Flirt und blöder Anmache. Sexismus ist ein Machtinstrument, nutzt Hierarchien aus und stellt diese her. Klar ist auch, dass Sexismus gern in Grauzonen blüht, also nicht immer handgreiflich und deutlich nachweisbar geschieht, sondern oft mit nicht eindeutig identifizierbaren Zwischentönen – Doppeldeutigkeiten eben, die man so oder anders auslegen kann. Klar ist mittlerweile auch, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung von Sexismen gibt und dass Männer Verantwortung tragen, das richtig einzuschätzen. Es geht um Respekt oder, wie man in der Debatte gerne betonte, um «Augen-», nicht um «Brusthöhe». Alles zusammengefasst klingt das wie Morgenluft, als würde langsam zur Selbstverständlichkeit, wofür man so lange kämpfen musste.

Das Gefühl von Optimismus hat eine längere Vorgeschichte, und die gegenwärtige Debatte ist ein Schritt auf einem Weg, der mittlerweile immer ebener zu werden scheint. Ein ähnliches Erstaunen über veränderte Verhältnisse hätte man nämlich auch schon 2011 haben können, als der Fall Dominique Strauss-Kahn Schlagzeilen machte. Die Anklage wegen versuchter Vergewaltigung hat den damaligen IWF-Chef und möglichen Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialisten die Karriere gekostet. Strauss-Kahn war nicht der Einzige, denn im selben Jahr liefen hochkarätige Anklagen wegen sexueller Übergriffe auch gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange, Israels Expräsidenten Mosche Katzav, Italiens Expremier Silvio Berlusconi und den Fernsehmoderator Jörg Kachelmann. Alle stolperten über eine empfindliche Schwäche, die vor zehn Jahren noch keine so grosse Sache gewesen wäre. Interessant an diesen Fällen war nicht das Juristische, sondern die sie begleitende – natürlich auch grob voyeuristische – öffentliche Diskussion, die einen Wertewandel andeutete und zeigte, dass das alte Herrenreitermodell, dem auch Brüderle noch anhängt, symbolisch nicht mehr den höchsten Kredit geniesst. Kleine Rubys schmieren, sich mal eben nach dem Duschen am Zimmermädchen bedienen oder Dekolletés kommentieren ist mittlerweile kein Zeichen von Macht mehr, sondern allenfalls eines von Lächerlichkeit.

Nackter Kaiser

Offenbar hat sich in den letzten Jahren etwas Wesentliches im Verhältnis von Macht und Sexualität verändert. Das liegt einerseits an einer neuen Bedeutung von Öffentlichkeit, andererseits an grösserer Definitionsmacht von Frauen. Sexismus und sexuelle Übergriffe brauchen einen Raum des Schweigens und der Tabus. Nun aber wird vormals Beschwiegenes ausgesprochen, die «Opfer» bekommen eine andere, gewichtigere Stimme. Das zeigte sich vor allem an der Debatte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und pädagogischen Institutionen vor drei Jahren. Auch hier war die Tatsache des Missbrauchs lange bekannt, wurde aber öffentlich nicht zur Kenntnis genommen und deshalb auch nicht zur relevanten Wahrheit. Im Fall des Sexismus ist das ähnlich. Man mag sich an der Sprache der Political Correctness stossen, an den Empörungswettbewerben und heuchlerischen Opferidentifikationen. Doch ein solches Sprechen ist wichtig, damit das Blatt sich wendet. Es ist wie im Märchen «Des Kaisers neue Kleider»: Eine kritisch grosse Masse muss die Erkenntnis nachsprechen, dass der Kaiser gar keine Kleider trägt. Erst dann ist der Kaiser wirklich nackt, und man kann ihn absetzen.

Wenn alles gut geht, erleben wir gerade die gesellschaftliche Abwertung eines längst überfälligen Modells von Maskulinität. Das ist ein Grund zum Aufatmen. Grund zum Zurücklehnen ist es noch lange nicht.

Der Einfluss von Frauen aufs öffentliche Leben ist gestiegen. Sexueller Machismus ist heute kein Kavaliersdelikt mehr, weil die Kavaliere von heute zum Teil Frauen sind. Der herkömmliche Sexismus gerät aber auch deshalb in Misskredit, weil eine neue Generation von Männern sich von den alten Herren abgrenzen will, um die Macht zu übernehmen. Es geht hier um das Markieren eines diskursiven Terrains, und zum guten Ton gehört es heute, Frauen offiziell gleichwertig zu behandeln. Das heisst nicht, dass real sexuelle Übergriffe weniger werden, sie gehören nur nicht mehr zum bevorzugten symbolischen Kapital der neuen Männlichkeit. Das Protzen mit sexueller Potenz werden die Newcomer über kurz oder lang den Proleten überlassen und einer alten Generation von Berlusconis. Sie werden aber auch versuchen, ihre Macht anders zu demonstrieren. Über Geld, berufliche Position, Wohlstand, Meinungsmacht, Geschmack und Börsennotierungen. Es bleibt gut zu beobachten, wie in diesem Machtgerangel der viel beschworene «Kampf der Geschlechter» weitergeht.

Neu ist, dass sich so viele Frauen zu Wort melden, dass sie wütend sind und dass sie ein Echo erzeugen.