Durch den Monat mit Vasco Pedrina (Teil 2): Wie war es mit der freien Liebe?
Vasco Pedrina, Sie stammen aus Airolo und Ihr Urgrossvater war Postillon am Gotthard.
Ja. Von meinem Vater habe ich erfahren, dass er bei der Arbeit gestorben ist. Er ist während eines seiner Dienste gestorben, doch die Pferde haben ihn mit der Kutsche ganz normal zurück ins Dorf gebracht. Man erzählte, er sei auf dem Kutschbock erfroren. Ob das stimmt, oder ob er vielleicht einen Herzinfarkt hatte, weiss ich nicht.
Tot und steif gefroren kam er vom Berg herunter?
Genau. Viele unserer Verwandten haben von der besonderen Lage Airolos profitiert. Als Hufschmiede zum Beispiel. Mein Grossvater war Bauer, aber er gründete auch eine Bäckerei, die meine Eltern übernahmen. Unsere Kunden waren nicht nur die Leute des Dorfes, ich erinnere mich, dass meine Mutter einige Male über die Saisonniers schimpfte, die sich beharrlich weigerten, Schwarzbrot zu kaufen. Lieber assen sie kein Brot als Schwarzbrot, das sie an den Krieg erinnerte. Daneben bedienten wir auch viele Soldaten, die in den Festungen am Gotthard Dienst taten.
Wie wird man vom Bäckerssohn zum linken Gewerkschafter? Sie hätten auch Gewerbeverbandspräsident werden können.
Mein Vater war Vizepräsident des Schweizerischen Bäckermeisterverbandes, es war vorgesehen, dass ich die Bäckerei übernehmen sollte. Vielleicht hoffte man tatsächlich, dass ich Karriere im Gewerbeverband machen würde. Aber mein Vater hatte auch eine andere Seite. Er war ein Linksliberaler, als es die Sozialdemokratie im Dorf noch nicht gab. Er hatte eine eigene politische Gruppe gegründet, um – wie er sagte – die Mafia der etablierten Parteien zu sprengen. Das war Mitte der fünfziger Jahre, später habe ich erfahren, dass er dafür unter einem Boykott leiden musste. Wir waren sechs Kinder, also ging es um die Existenz. Mein Vater hat mir die Werte der Französischen Revolution beigebracht. Das war der erste Schritt. Der nächste Schritt war die Achtundsechzigerbewegung. 1967/68 gab es im Tessin, insbesondere im Lehrerseminar, eine Streikbewegung der Schüler. Ich besuchte die Handelsschule und wir organisierten einen Solidaritätsstreik. Den dritten Anstoss gab ein junger Pfarrer im Dorf, der mir eine linke katholische Revue, «Dimensioni», nahe brachte. So habe ich begonnen mich für die Fragen von Sozialismus, Kapitalismus, Demokratie zu interessieren.
Sie wurden über die Religion politisiert?
Auch über die Religion. Doch der Hauptanstoss kam von 1968. Deshalb ging ich an die Universität Freiburg. Sie war das Mekka der neuen Tessiner Linken. Wir hatten dort ein «Movimento d'oppositione studentesco» und führten grosse Diskussionen über Reform und Revolution. Am meisten beschäftigte mich die Frage, ob es möglich ist, Sozialismus mit Demokratie zu vereinbaren. So bin ich auch in Kontakt mit den Trotzkisten gekommen, die den Stalinismus und den Kasernenkommunismus in Osteuropa kritisierten.
Sie haben Ökonomie studiert, warum?
Die meisten Linken studierten damals Geschichte, Soziologie oder Literatur. Ich wählte Volkswirtschaft und musste dafür ausschliesslich bürgerliche Theorien lernen. Aber ich habe es nie bereut. Zu jener Zeit lebte ich in einem gewissen Dualismus. Mit dem Kopf und politisch war ich voll bei der Achtundsechzigerbewegung. In allem, was mit dem Privatleben zu tun hatte, war ich traditionell – auch weil ich aus den Bergen kam und vielleicht noch nicht ganz reif war.
Also keine freie Liebe?
Freie Liebe zum Beispiel lag mir fern. Es gab auch Kollegen, die sich einen Sport daraus machten, in Buchhandlungen Bücher zu stehlen. Zu solchen Brüchen mit dem Establishment hatte ich eine gewisse Distanz. Noch war nicht ausgeschlossen, dass ich nach dem Studium nach Airolo zurückkehrte, um die Bäckerei weiterzuführen.
Wann traten Sie in die trotzkistische Revolutionäre marxistischen Liga (RML) ein?
1971/72 habe ich zwei entscheidende Schritte gemacht. Das eine war, dass ich zusammen mit anderen in Freiburg die «Colonie libere italiane» mitgründete, eine Organisation für die Migranten. Der andere Schritt war, dass sich unser Movimento, die Gruppierung der linken Tessiner in Freiburg, der RML anschloss. So bin ich RML-Mitglied geworden.
Was haben die Eltern dazu gesagt?
Mein Vater war Offizier und hatte Jahre im Aktivdienst verbracht. Was ihn am meisten störte, war unsere Kritik an der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, am Verhalten gegenüber jüdischen Flüchtlingen und den Kompromissen gegenüber Deutschland. Wir waren sehr kritisch, das hat ihm Mühe gemacht.
Es hat ihn gekränkt?
Aber er hat nie Druckmittel eingesetzt. Und meine Mutter: Erst mit dreissig Jahren erfuhr ich, dass sie linker war als mein Vater. Jedenfalls wenn es um Wahlen ging. Sie wählte immer SP, mein Vater wählte bürgerlich.
Mit dem Eintritt in die RML war auch entschieden, dass Sie nicht Bäcker würden?
Nicht sofort, erst im Laufe der Zeit wurde klar, dass ich mich woanders für unsere Ideen einsetzen wollte. Dafür hat mein Bruder Fabio die Bäckerei übernommen. Und er hat es geschafft, sowohl Bäcker als auch Verkehrsplaner und SP-Nationalrat zu werden.
Vasco Pedrina (62), pensionierter Präsident der Gewerkschaften GBH, GBI und Unia, ist Vizepräsident des Verwaltungsrates der SUVA, der Bau- und Holzarbeiter-Internationale und von Solidar Suisse.