Kommentar: Faire Löhne statt Almosen vom Staat
Für die Klientel der Freisinnigen mag Geld nur eine «emotionale» Rolle spielen. 400 000 andere brauchen den Mindestlohn.
Ist die Mindestlohninitiative ein linkes Hirngespinst, das die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz gefährdet? Vernichtet sie Arbeitsplätze, wie die einfallslose bürgerliche Gebetsmühle der Bevölkerung wieder mal weismachen möchte? In einer wachstumsorientierten Volkswirtschaft ist das – um FDP-Nationalrat Ruedi Nosers Wortschatz zu benutzen – Bullshit. Die Lohnabhängigen sind schliesslich auch KonsumentInnen, die der Wirtschaft ihre Produkte und Dienstleistungen abkaufen. Die Initiative ist alles andere als extrem, sie orientiert sich an der Realität eines Hochpreislands. Weshalb verdienen in einer reichen Volkswirtschaft etwa 400 000 qualifizierte und erfahrene Leute mit einer abgeschlossenen Berufslehre zu wenig, um anständig über die Runden zu kommen?
Diejenigen, die jetzt von der «schädlichen» Wirkung der Initiative schwafeln, haben keine Lösungen parat, weil sie gar nie eine Lösung suchten oder immer noch keine wollen. Wie beispielsweise der FDP-Nationalrat Fulvio Pelli. Er sieht keinen «echten Handlungsbedarf», bloss einen «emotionalen». Für WirtschaftsanwältInnen mag Geld eine bloss «emotionale» Rolle spielen. Andere bezahlen damit ihre Krankenkassenprämien, ihre Miete oder die Ausbildung ihrer Kinder.
Übers vergangene Wochenende lancierten die Parteipräsidenten Philipp Müller (FDP) und Christophe Darbellay (CVP) die Kampagne gegen die Mindestlohninitiative – und schmuggelten sich rhetorisch ins linke Lager. Angesichts der derzeit hohen Zustimmung für die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (75 Prozent würden heute Ja stimmen) sind für sie allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge in allen Branchen kein Tabu mehr, auch die Forderung nach Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern kommt da gerade recht. Jetzt werkeln sie an einem Gegenvorschlag.
FDP-Präsident Philipp Müller hat allerdings nicht nur in der Bevölkerung ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn er die FDP vom Bock zum Gärtner machen möchte – das Gros seiner ParteikollegInnen, der Bundesrat und die Arbeitgeberverbände beharren auf dem neoliberalen Kurs. Ihre Botschaft an die unterbezahlten, vollerwerbstätigen Berufsleute: Anstrengung und Arbeit lohnen sich nicht; holt euch die Almosen beim Staat, wenn es nicht zum Leben reicht.
Die Linke ist geeint, das bürgerliche Lager ist sich uneins. Die ständerätliche Wirtschaftskommission hörte am Montag den Gewerkschaftsbund an. Mit sieben gegen fünf Stimmen hat sie die Verwaltung beauftragt, einen Bericht über Tieflöhne und über Alternativen zur Mindestlohninitiative zu erstellen. Vernebelnder Aktivismus auch hier.
Jetzt wird überdeutlich: Die reiche Schweiz hat kein Umverteilungs-, sie hat ein massives Verteilungs- und Chancengleichheitsproblem. Es liesse sich mithilfe der Unternehmen und ihrer politischen ZudienerInnen ohne weiteres und ganz ohne bürokratischen Umverteilungsaufwand lösen. Die Produktivität müsste bloss dort angemessen verteilt und investiert werden, wo sie die Arbeitenden erzielen, nämlich in den Unternehmen.
Erst wo zu tiefe Löhne bezahlt werden, wird Umverteilung und damit auch mehr Bürokratie und der von vielen Bürgerlichen beklagte Ausbau des Sozialstaats nötig. (Und an die Adresse des Gewerbeverbands: Wenn alle genug verdienten, würden wohl auch weniger Leute ins nahe Ausland einkaufen gehen; die dort jährlich ausgegebenen sieben Milliarden Franken blieben dann im Land, in den Kassen der Gewerbebetriebe, auch für bessere Löhne.) Der Staat und damit die SteuerzahlerInnen bezahlen die Zeche, die Unternehmer, Manager und Aktionärinnen sacken den Zusatzgewinn ein. Was das bedeutet, zeigt die vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder angestossene Agenda 2010 in Deutschland. In einem Jahrzehnt subventionierte der deutsche Staat Billigjobs in der Höhe von siebzig Milliarden Euro. Und brachte damit Millionen Menschen in eine unwürdige Lage.