Nino Kühnis (1978–2013): Leidenschaftlich, ernst und wirblig
Nino Kühnis wirkte in der Zürcher Alternativkulturszene, als lebte er mehrere Leben auf einmal. Letzte Woche ist er mit 35 Jahren bei einem Verkehrsunfall getötet worden.
Am Anfang ist da nur ein Pressebild. Ein leichtes blaues Rennvelo unter einem Lastwagen. Sichtbar sind nur das Vorderrad und ein Teil der Lenkstange. Es sieht aus, als hätte der Lastwagen den Rest gefressen.
Zum Bild gehört eine Meldung. Eine, die wir so ähnlich schon oft gelesen haben: «Der Lastwagen war laut Angaben der Stadtpolizei unterwegs vom Landesmuseum in Richtung Rudolf-Brun-Brücke. Der 44-jährige Chauffeur wollte in der Unterführung beim Bahnhofplatz offenbar nach rechts abbiegen (…). Dabei kollidierte er mit einem 35-jährigen Velofahrer, der in die gleiche Richtung unterwegs war. Der Velofahrer wurde mit schwersten Verletzungen ins Spital eingeliefert, wo er kurze Zeit später verstarb.»
Eine empörende Meldung, aber noch bleibt die Empörung abstrakt. Weltweit töten Autos jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen, und alle haben sich daran gewöhnt. Allein in der Stadt Zürich wurden letztes Jahr 298 VelofahrerInnen bei Unfällen verletzt.
Bis dann eine zweite Meldung kommt, diesmal nicht in der Presse, und das Abstrakte verschwindet, weil zum anonymen Foto nun plötzlich ein Gesicht gehört: Der Velofahrer war Nino Kühnis. Nino, eine wirblige Seele im Zentrum der Zürcher Alternativkultur. Erst vor fünf Wochen hatte er in der WOZ einen Text veröffentlicht – über die unerwartet politische Geschichte der Audiokassette – und den Artikel gleich selbst illustriert (siehe WOZ Nr. 35/13 ).
Typisch Nino: Eine Sparte genügte ihm nie. Nino war Historiker, Gitarrist und Sänger, Grafiker, Zeichner und Aktivist; er produzierte Sendungen bei Radio Lora, betrieb mit Freunden das Plattenlabel Quiet Records, organisierte Konzerte, schrieb im Musikheft «Loop» und veröffentlichte Comics und vegane Kochrezepte. Den Urgedanken des Punk – Mach es selber! – lebte er mit grosser Leidenschaft und Ernsthaftigkeit.
Gegen den Zynismus
Das zeigt zum Beispiel seine Band The Rabbit Theory. Die vier Musiker kamen vom Punk und Hardcore her, aber mit einer Vorliebe für schöne, poppige Harmonien. Glückliche Musik – trotz der ernsten, manchmal wütenden Texte.
Auf der Bühne strahlten die vier Leichtigkeit und Freude aus wie kaum eine andere Zürcher Band. Aber auch Ernst. Als wären sie im besten Sinn nie ganz erwachsen geworden: ein Ernstnehmen der eigenen Gefühle, herübergerettet aus der Teenagerzeit, resistent gegen die zynische Gleichgültigkeit, die manche für erwachsen halten. Dabei sah Nino Kühnis mit seinem schwarzen Bart eher älter aus, als er war, seltsam zeitlos, wie ein weiser Eremit mit Schalk in den Augen. Er konnte schreien, ohne aggressiv zu klingen.
Zwei Tage in der Woche arbeitete Nino als Grafiker beim Büro Elixir. Seit Jahren gestaltete er die Plakate für den Zürcher Club Helsinki. Das Handwerk hatte er sich selbst beigebracht, ebenso wie das Gitarrespielen. Das Analoge hatte es ihm angetan – nicht nur die Musikkassette, sondern auch der Siebdruck und die Arbeit mit Papier. «Etwa jedes vierte Plakat stellte er analog her», sagt Robin Wickli von Elixir. «Er bastelte Gegenstände und fotografierte sie. Er ging sehr analytisch an die Arbeit heran. Aber bei der Umsetzung kam der Punkt, wo er losliess und anfing, instinktiv zu kreieren. Es war schön, ihm dabei zuzusehen.»
Trotz des kleinen Pensums habe Nino das Büro geprägt. «Er war unser soziales Gewissen. Es war ihm wichtig, dass etwa gleich viele Männer und Frauen bei uns waren. Und er bestimmte unseren Kundenkreis mit, weil er für manche aus politischen Gründen nicht arbeiten wollte.» Er habe noch nie einen so prinzipientreuen Menschen gekannt, sagt Robin Wickli. «Als er Partner in unserer GmbH wurde, boten wir ihm einen günstigeren Anteil an, schliesslich studierte er noch. Aber Nino bestand darauf, genauso viel zu zahlen wie die anderen. Das war der Sommer, in dem er mit löchrigen Schuhen herumlief, weil er sich keine neuen leisten konnte.»
In seiner Dissertation «Anarchisten! Von Erleuchteten und Vorläufern, von Läusen und Unkraut» versuchte Nino zu verstehen, warum ausgerechnet die Schweiz um 1900 ein Zentrum des Anarchismus geworden war. Eine tragische Anekdote aus seiner Forschung, die Geschichte eines Berner Coiffeurs, der wegen seiner wilden Fantasie ins Visier des Staatsschutzes geraten war, erzählte er 2010 in der WOZ (siehe WOZ Nr. 3/10 ). Ninos Dissertation wird mithilfe von FreundInnen noch veröffentlicht werden.
Dieses zerbrechliche Leben
Alle Bekannten erinnern sich an Ninos Freude, seinen Optimismus. Aber es gab auch dunklere Phasen. Manchmal hatte Nino das Gefühl, sich abhandenzukommen, das, was ihn ausmachte, zu verlieren. Diese Erfahrung drückte er aus, wenn er darüber sang, zu gehen ohne Richtung und ohne Leidenschaft, alle Verbindungen unterbrochen: «I know what it’s like to walk / without direction and passion / with all connections lost / but still as myself.»
Und dann kommt ein Lastwagen und erinnert daran, wie wertvoll und zerbrechlich das Leben ist. Nino Kühnis hat es gewusst: «Life is such a precious thing / abundant, yes, but prone to breaking.» Eine Petition für sichere Velowege in der Stadt Zürich (tinyurl.com/zhvelo ), die am Todestag gestartet wurde, haben nach einer Woche über 2500 Menschen unterschrieben.