Forschungsplatz Schweiz: Warum wehren sich die WissenschaftlerInnen nicht?

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Sollte die «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP am 9. Februar 2014 angenommen werden, steht der Forschungsplatz Schweiz international vor einem Scherbenhaufen. Doch die WissenschaftlerInnen verschanzen sich im Elfenbeinturm.

Wo man auch anklopft: Weder an den Hochschulen noch im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) will man sich öffentlich zur «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP äussern. «Das ist nicht Aufgabe der Verwaltung», heisst es aus dem SBFI. «Es ist nicht unsere Aufgabe, Politik zu machen», sagt auch Roland Siegwart, Vizepräsident Forschung und Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zürich.

Kurz vor Redaktionsschluss dieser WOZ haben sich «Vertreterinnen und Vertreter des Wissensplatzes Schweiz» – darunter die Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten, der Nationalfonds und die Akademien der Wissenschaften Schweiz – doch noch zu einem offiziellen Statement durchgerungen. Mit ihrem «Manifest für einen offenen Bildungs- und Forschungsplatz Schweiz» schrecken sie indes niemanden auf: Es geht nicht über ein Bekenntnis zur Personenfreizügigkeit als «Königsweg zu exzellenter Bildung und Forschung» hinaus.

Dabei steht für den Forschungsplatz Schweiz enorm viel auf dem Spiel, sollte die Initiative am 9. Februar angenommen werden. Würde der freie Personenverkehr mit Höchstzahlen und Kontingenten eingeschränkt, würde sich das extrem negativ auf die Schweizer Forschungslandschaft auswirken. Schlimmstenfalls könnten die Hochschulen sowohl den Zugang zu international gefragten SpitzenforscherInnen als auch zu wichtigen Forschungsgeldern und -netzwerken verlieren.

«Ich finde es enorm wichtig, darüber zu diskutieren, welche möglichen Folgen eine Annahme der ‹Masseneinwanderungsinitiative› auf den Forschungsplatz Schweiz haben könnte», sagt Sofia Karakostas, Koleiterin von Euresearch Zürich. Euresearch informiert im Auftrag des SBFI an zehn Hochschulstandorten in der Schweiz über die komplizierten Teilnahmeprozeduren der EU-Forschungsrahmenprogramme (FRP). Karakostas berät und unterstützt die Forschenden bei ihren Projektanträgen. «Wir weisen an all unseren Veranstaltungen darauf hin, dass man Nein stimmen soll.»

ETH droht Bedeutungsverlust

Mit ihrer Haltung steht Karakostas allein auf weiter Flur. Dabei sind die FRP neben dem Schweizer Nationalfonds die bedeutendsten Forschungsprogramme für die Schweiz. Seit dem 6. EU-Forschungsrahmenprogramm ist die Schweiz assoziiertes Mitglied; hiesige ForscherInnen können sich also seit 2004 gleichberechtigt mit EU-ForscherInnen um Fördergelder bewerben. Dieser Status ist gefährdet, falls die Initiative angenommen wird. «Die EU-Kommission hat uns gegenüber bereits deutlich gemacht, dass in diesem Fall eine Erneuerung der Verträge sehr schwierig wäre», sagt SBFI-Vizedirektor Jürg Burri.

Die Schweiz hat bislang im europäischen Vergleich überproportional von den Forschungsrahmenprogrammen profitiert und erfolgreicher als die meisten anderen Länder Forschungsgelder eingeworben. Insbesondere im prestigeträchtigen Bereich der sogenannten ERC-Grants: Sie werden vom Europäischen Forschungsrat (ERC) für Grundlagenforschung auf höchstem Niveau vergeben, und zwar nur an wissenschaftlich hoch qualifizierte Einzelpersonen. Sie sind mit ein Grund dafür, dass die Schweiz international an der Spitze der Forschung mitmischen kann.

Jürg Burri ist überzeugt, dass die Schweiz gute Karten in der Hand hat in den Vertragsverhandlungen zum soeben angelaufenen 8. FRP «Horizon 2020». Ausser die SVP-Initiative wird angenommen: «Stellen Sie sich vor: ein europäisches Forschungsprogramm, bei dem der Klassenbeste nicht mitmachen darf!» Wird der Vertrag nicht erneuert, wäre dies zum Schaden der Schweiz und der EU, betont Burri. Über einen Plan B für den Fall, dass die Verhandlungen mit der EU scheitern sollten, scheint sich das SBFI trotzdem keine Gedanken machen zu wollen. Zumindest ist Sofia Karakostas’ Anfrage dazu unbeantwortet geblieben.

Wie dramatisch die Folgen wären, verdeutlicht das Beispiel des Forschungsplatzes Zürich. Rund 35 Prozent aller EU-Mittel aus dem 7. FRP, die in die Schweiz flossen, hat Zürich abgesahnt – 586 Millionen Franken. ETH-Vizepräsident Roland Siegwart, dessen Hochschule allein 84 ERC-Grants eingeworben hat, spricht gar von einem «Desaster»: «Wir könnten keine ERC-Grants mehr in die Schweiz holen und auch sonst bei Forschungsprojekten nur noch mitmachen und nicht mehr wie bisher den Lead übernehmen. Die besten Forscher würden sich anderswohin wenden. Der ETH drohte so ein internationaler Bedeutungsverlust.»

Aber für Siegwart bleiben das Spekulationen. Er schaut der Abstimmung vom 9. Februar zuversichtlich entgegen. «Ich vertraue darauf, dass die Schweizer Bevölkerung an der Urne weise entscheidet und die Initiative ablehnt.»

Unpolitisch und unlogisch

Sofia Karakostas hingegen bereiten solche Überlegungen Kopfzerbrechen. «Ich begreife nicht, dass die Forscher nicht gegen diese Initiative auf die Barrikaden gehen, dass sie keine Inserate schalten oder in anderer Weise protestieren», sagt sie. «Es scheint ihnen gar nicht bewusst zu sein, was für sie auf dem Spiel steht.»

Tatsächlich sorgt die bevorstehende Abstimmung an den Instituten und in den Laboratorien der ETH Zürich kaum für Gesprächsstoff. «Die Leute hoffen ganz einfach, dass es ihre Arbeit nicht belasten oder einschränken wird, falls die Initiative angenommen wird», sagt Bradley Nelson vom Institut für Robotik und Intelligente Systeme. Er leitet ein stark international geprägtes Team von rund dreissig Forschenden, das in zahlreiche EU-weite wissenschaftliche Projekte an Universitäten und in der Industrie involviert ist. Wird die Initiative angenommen, befürchtet Nelson, dass die Bewegungsfreiheit seiner MitarbeiterInnen stark eingeschränkt werden könnte. «Das wäre ein Handicap, das unsere Forschung behindern und verzögern würde.»

Betroffen wären nicht nur Nelson und sein Team, sondern die allermeisten ProfessorInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und DoktorandInnen an der ETH Zürich: Zwei Drittel von ihnen stammen aus dem Ausland. Dass weder sie noch ihre Schweizer KollegInnen Stellung gegen die Initiative beziehen, erklärt sich Nelson so: «Akademiker aus den Technik- und Naturwissenschaften sind meist ziemlich unpolitisch. Den Leuten in meinem Team leuchtet es nicht ein, warum man dieser Initiative überhaupt zustimmen sollte – sie sehen schlicht keine Logik dahinter.»

«Forschung darf nicht an den Landesgrenzen haltmachen», verkündete Bundesrat Johann Schneider-Ammann jüngst anlässlich der Konferenz zum Start des 8. EU-Forschungsrahmenprogramms «Horizon 2020». Dass Forschung aber weder über noch ausserhalb der Politik steht, scheint zahlreichen WissenschaftlerInnen in der Schweiz noch nicht bewusst geworden zu sein.

Was weiter geschah: Nachtrag vom 13. März 2014 : Von 156 auf null

Wenige Wochen vor der Abstimmung über die SVP-«Masseneinwanderungsinitiative» hat die WOZ darauf aufmerksam gemacht, dass der Schweizer Forschungsplatz im Fall einer Annahme mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen hätte. Mittlerweile haben sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet: Die Schweiz ist mit sofortiger Wirkung aus dem neuen EU-Forschungsrahmenprogramm (FRP) «Horizon 2020» ausgeschlossen, dessen Start man im Januar in Bern mit einer grossen Konferenz gefeiert hatte.

Namentlich den beiden ETHs in Zürich und Lausanne (EPFL) droht ein internationaler Bedeutungsverlust. Ihre Aushängeschilder können nicht länger die prestigeträchtigen ERC-Grants einwerben. Im Verlauf des letzten FRP hatte der Europäische Forschungsrat 156 solcher Grants an ETH-Forschende vergeben. «Sollte der Ausschluss nicht umgehend rückgängig gemacht werden können, würde dies es den Institutionen deutlich erschweren, weiterhin vielversprechende Nachwuchstalente und etablierte Spitzenforschende zu gewinnen oder zu halten», warnte der ETH-Rat am 7. März.

Die Zeit drängt: Eingabetermin für die erste Runde an ERC-Grants ist der 25. März. An die 20 Forschende der EPFL wollen ein Gesuch einreichen, an der ETH Zürich sind es gar 32. Nun will der Nationalfonds (SNF) zumindest für das laufende Jahr die Finanzierung übernehmen. «Das löst unser Problem nicht», sagt Jérôme Grosse, Leiter der EPFL-Medienstelle. Es gehe darum, dass sich die Forschenden dem internationalen Wettbewerb stellen könnten, betonen sowohl Grosse als auch ETHZ-Mediensprecher Roman Klingler. Andernfalls droht tatsächlich eine Provinzialisierung des Forschungsplatzes Schweiz.