Spanien: «Die Jungen schwatzen zu viel»
Aktionen vor Spitälern, Besetzungen von U-Bahn-Stationen, Demos gegen die Einschränkung des Abtreibungsrechts – in Spanien geht es wieder hoch her. Und mit dabei sind meist die RentnerInnen von den Iaioflautas.
Barcelona, Stadtteil Gràcia, Dachgeschoss eines älteren Wohnhauses. Im Wohnzimmer: Rosario Cunillera, Antonia Jover und Alfonso Romero, 67, 74 und 62 Jahre alt, alle drei sehr munter und sehr zornig. «Was fällt diesen Leuten wohl noch alles ein?», schimpft Antonia Jover. «Da erlassen sie freitags Gesetze, die montags schon in Kraft treten, und jetzt wollen sie uns alle hinter Gitter bringen!» Mit «diesen Leuten» meint sie die rechtskonservative PP-Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy, die seit ihrem Amtsantritt viele Gesetze im Schnellverfahren durchs Parlament gepeitscht hat und jetzt ein «Knebelgesetz» einführen will (siehe WOZ Nr. 51/13 ), das die Beteiligung an Protestaktionen mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen ahndet.
Antonia Jover ist sichtlich verärgert, auch weil das geplante Abtreibungsverbot noch schärfer ausfallen soll als befürchtet (vgl. «Spanien in Bewegung» im Anschluss an diesen Text). Dabei hat sie schon viel erlebt. Als Kleinkind hatte sie drei Jahre im Gefängnis verbracht, weil ihre Eltern nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) von den Franquisten inhaftiert worden waren. Diese Erfahrung hat Jover bis heute geprägt.
Rosario Cunillera ist ebenfalls kampferfahren. Aufgewachsen in Frankreich, wo ihre Eltern im Exil lebten, kam sie Ende der sechziger Jahre nach Spanien und mietete im Auftrag der französischen KP in Barcelona eine Wohnung an, die bald zu einem konspirativen Treffpunkt wurde. Noch heute lebt sie hier, wo einst Flugblätter gedruckt wurden – und vergewissert sich jedes Mal, wenn es an der Tür klingelt: «Wer da?» Man könne ja nie wissen, sagt sie. Ein bisschen konspirativ geht es hier noch immer zu, etwa wenn sie ihren MitstreiterInnen einen Zettel reicht. Auf ihm steht eine Liste möglicher Aktionen, die ihr ein Achtzigjähriger gegeben habe. Aber nein, die Liste dürfe ich natürlich nicht sehen, sagt Cunillera und lächelt.
«Wir sind Kinder des 15M»
Cunillera, Jover und Alfonso Romero sind Mitglieder der Iaioflautas von Barcelona, der RentnerInnenbrigade der spanischen Empörtenbewegung 15M. Seit dem 15. Mai 2011 widersetzen sich die Indignados der Austeritätspolitik der Regierung, und oft mit dabei sind die Iaios (katalanisch für «Omas und Opas»). Den Namenszusatz «flautas» haben sich die SeniorInnen in Reaktion auf eine Diffamierung zugelegt. Die Indignados seien doch alle «perroflautas», schimpfen PP-PolitikerInnen seit langem – Gammler, die Flöte spielend auf der Strasse sitzen. «Wenn man den Menschen auf diese Weise den Mut nehmen will, dann sind wir eben Iaioflautas, Opas und Omas mit Flöten», hiess es daraufhin in einem Manifest der Gruppe.
Zu ihrer Gründung kam es im Gefolge der vielen Platzbesetzungen im Mai 2011. Auch in Barcelona hatten Jugendliche wochenlang die Plaça de Catalunya okkupiert. «Ich bin jeden Tag hingegangen», erzählt Rosario Cunillera, «und dachte: Endlich bewegt sich etwas, endlich wachen die jungen Leute auf!» Sie war nicht die einzige Ältere, die etwas gegen dieses «korrupte, ungerechte und faschistische System» unternehmen wollte, und so trafen sich im Herbst 2011 rund ein Dutzend Iaioflautas. Ihre erste Aktion sollte sich gegen Banken richten, die Hauptverantwortlichen für die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise. Hatten nicht schon die Jungen eine Besetzung versucht und waren gescheitert, weil das Wachpersonal sofort die Polizei alarmierte? «Meine erste Reaktion war: Wie bitte? Wir sollen eine Bank besetzen?», sagt Cunillera. «Aber dann dachte ich: Natürlich, was denn sonst!»
Und so marschierte Ende Oktober die kleine Gruppe zu einer Filiale der Bank Santander. Diese erste Aktion gegen Spekulation und die Finanzoligarchie dauerte zwar nicht einmal eine Stunde, gefiel den TeilnehmerInnen aber so gut, dass sie gleich am nächsten Tag wieder loszogen und in Bellvitge, einem Aussenbezirk von Barcelona, die Poliklinik besetzten – gegen Kürzungen im Gesundheitswesen. «Inzwischen haben wir uns an Überraschungen gewöhnt», sagt Cunillera. «Wir werden angerufen und irgendwo hinbestellt, ohne zu wissen, was dann stattfindet.» Das sei auch gut so. «Das ist etwas, was die Jungen von uns lernen können: Sie schwatzen zu viel.» Sie hingegen, die Älteren, wüssten, «wie man den Mund hält, das haben wir während der Franco-Diktatur gelernt».
Seither sind die Iaioflautas oft unterwegs – sie besetzen Bankfilialen, öffentliche Gebäude, mitunter sogar ein Kino (siehe WOZ Nr. 24/13 ), waren bei der Ratingagentur Fitch, besuchten einen katalanischen Unternehmensverband und protestierten im deutschen Konsulat gegen die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. «Streiche» nennen sie ihre Aktionen, die sie zumeist in kleinen Gruppen ausführen; nur manchmal, wenn sie Unterstützung auf der Strasse brauchen, mobilisieren sie die Jungen vom 15M. Meist ist es eher umgekehrt – aus einem einfachen Grund: Die inzwischen berüchtigten Mossos d’Escuadra von der katalanischen Polizei greifen schnell zu den Schlagstöcken. «Wenn es brenzlig wird oder die Polizisten von einem Jungen den Ausweis sehen wollen, stellen wir uns dazwischen», sagt Cunillera. «Was soll uns schon passieren? Erstens werden die sich hüten, jemanden wie mich zu verprügeln. Und zweitens wissen sie von uns ohnehin schon alles, wie wir heissen, wo wir wohnen.» – «Genau!», wirft Antonia Jover lachend ein. «Und das, obwohl wir sogar einen Verschlüsselungskurs gemacht haben!»
Auf die Idee sei ein Neffe von ihm gekommen, erzählt Alfonso Romero, der einst in einer Bank, als Bürobote und schliesslich als Heizungsmonteur gearbeitet hatte: «Wenn wir schon so irre Aktionen machen, sollten wir wenigstens unsere Mails verschlüsseln.» Der Kurs sei toll gewesen, sie hätten viel Spass gehabt, aber hängen geblieben ist kaum etwas. «Wir konnten nicht mal mehr die eigenen Mails lesen. Ausserdem ist immer wieder der Computer abgestürzt.»
Geld ist genug da
Cunillera, Jover und Romero sind aus politischer Überzeugung bei den Iaioflautas, andere der heute rund 700 Mitglieder in Barcelona hätten mit Politik weniger am Hut, ihnen gehe es vor allem darum, eine weitere Kürzung der Mindestrente (derzeit 647 Euro im Monat) zu verhindern. Sie hingegen kämpfe nicht für sich, «sondern für die, die nach uns kommen», sagt Rosario Cunillera. «Uns werden sie ohnehin nicht mehr das geben, was wir wollen.»
Wenn Romero zu Hause gefragt werde, wohin er denn jetzt gehe, sage er selten «zur Demo» oder «eine Bank besetzen». Er antworte dann: «Ich gehe in eine Bar oder Boule spielen», was anders erwarte man von Leuten in seinem Alter ohnehin nicht. «Sonst stellt meine Tochter zu viele Fragen oder will womöglich noch mit.» Sie aber müsse ihre eigenen Erfahrungen machen und sich mit den Mitteln ihrer Generation wehren. Das gilt auch für Cunilleras Tochter. «Sie ist zwar nicht ganz so engagiert wie ich in ihrem Alter. Aber immerhin ist sie in der Plattform für Hypothekengeschädigte aktiv, blockiert Strassen, um Zwangsräumungen zu verhindern, oder unterstützt Zwangsgeräumte bei der Besetzung leer stehender Häuser.»
Konkrete Forderungen haben sie jedenfalls genug. Ein Mindesteinkommen für alle zum Beispiel. Geld sei ja genug da, sagt Antonia Jover. Man müsse nur der Kirche die Unterstützung streichen, die Monarchie abschaffen, die Armee auflösen. Oder von den Banken die Gelder zurückfordern. Leider würden das viele nicht verstehen. Mit Aktionen gegen Rentenkürzungen könnten sich hingegen fast alle identifizieren. «Wenn wir über diese Gemeinsamkeit das System stürzen können, dann soll mir das recht sein», sagt Romero dazu.
Besser ein Krankenwagen
Einmal im Monat treffen sich rund hundert AktivistInnen, der harte Kern der Iaioflautas von Barcelona, zu einer Versammlung. Da wird dann alles Mögliche besprochen – nur nicht der nächste Streich. Den kennt nur der oder die jeweilige KoordinatorIn. Das war auch bei der Börsenbesetzung letzten September so, über die sie heute noch lachen. Als sie in das Gebäude marschierten, seien sie sofort von maskierten Polizisten umringt worden. Als klar wurde, dass sie so schnell nicht abziehen würden, drohte ihnen die Staatsgewalt mit Haft. «Ein paar Stunden später sagten wir ihnen, dass sie statt der Gefangenentransporter doch lieber Krankenwagen bestellen sollten», erzählt Jover. «Denn da hatten wir ganz andere Probleme: Einer brauchte dringend seine Tabletten, ein anderer beschwerte sich, weil sein Urinbeutel voll war – und wieder andere forderten Stühle, weil sie nicht mehr stehen konnten.»
Doch Aktionen allein, davon sind die drei in Cunilleras Wohnzimmer überzeugt, reichen nicht. Jover denkt, dass die Jungen vom 15M eine Partei gründen müssen – wie sonst solle man die Gesellschaft ändern? Cunillera setzt auf eine Revolution («aber ohne Gewalt – die andere Seite hat immer die besseren Waffen») und eine Kooperation aller sozialen Bewegungen. Die LandarbeiterInnen von Andalusien (siehe WOZ Nr. 38/12) seien ein Beispiel dafür. Dazu aber, so Romero, müssten erst ein gemeinsamer Nenner, eine zündende Parole gefunden werden, etwa «Libertad y amnistia», Freiheit und Amnestie, «das hat nach der Diktatur funktioniert» und würde auch heute gut passen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Positionen wollen die drei weitermachen, solange es physisch und psychisch geht. Wegen ihrer Ziele, weil die Aktionen Abwechslung und Unterhaltung bieten und weil es zusammen oft recht lustig ist. «Wenn ich mit meinen Kollegen hier nicht klarkäme», sagt Romero, «wäre ich vermutlich seltener dabei.»
TeilnehmerInnen der WOZ-Reisen nach Barcelona kennen Rosario Cunillera (und einige auch Antonia Jover); sie sind ihr dort begegnet.
Spanien in Bewegung
Am Montag vergangene Woche stoppte der oberste Gerichtshof Spaniens die Privatisierung der Krankenhäuser von Madrid. Über Jahre hinweg hatten ÄrztInnen, Pflegepersonal und PatientInnen mehrmals wöchentlich gegen den Ausverkauf und die Schliessung von Spitälern demonstriert und auch gestreikt.
Dieser Erfolg beflügelt andere. Seit Monaten protestieren Barcelonas Bus- und U-Bahn- NutzerInnen gegen die Erhöhung der Fahrpreise. Am vorletzten Mittwoch besetzten mehrere Hundert Fahrgäste 22 Zug- und U-Bahn-Höfe; vier U-Bahn-Linien waren kurzfristig unterbrochen. Die Aktionen sollen fortgesetzt werden.
Und dann demonstrierten am vergangenen Sonntag Zehntausende in Madrid und Barcelona gegen die geplante Reform des Abtreibungsrechts. Die Regierung will Schwangerschaftsabbrüche nur noch bis zur zwölften Woche und in zwei Fällen erlauben: nach Vergewaltigung und bei Lebensgefahr für die Frau.