Eurozone: Pokern auf hohem Niveau
Seit Syrizas Wahlerfolg hat europaweit eine Debatte begonnen, die die deutsche Regierung unbedingt vermeiden wollte: über die Austeritätspolitik und ihre beinharten VerfechterInnen in Berlin.
Wenn nicht alles täuscht, erlebt Europa derzeit eine bemerkenswerte Selbstdemontage: Deutschland schmollt sich in die Isolation. Die Regierung (SPD inklusive) lehnt alle Kompromisse ab; der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger nennt Griechenlands Bitte um etwas Luft «frech und unverschämt»; und die an einseitigen Kampagnen wahrlich nicht arme deutsche Medienindustrie ereifert sich über Athens «bockige» «Chaotentruppe» und den «Albtraum und Geisterfahrer» Alexis Tsipras.
Möglicherweise hat die deutsche Empörung damit zu tun, dass die neue griechische Regierungspartei Syriza in ihrer kurzen Amtszeit bisher viel Richtiges beschlossen hat: Sie stösst den kostspieligen Fuhrpark der Vorgängerregierung ab, will die Privatisierungen stoppen, plant die Wiedereinstellung von Beschäftigten wie etwa der Putzkräfte, die seit ihrer Entlassung protestieren (vgl. «Löhne rauf, damit die Wirtschaft wieder läuft» ), rangelt mit dem Koalitionspartner Anel um Erleichterung für MigrantInnen und hat der Troika die Tür gezeigt. Damit meinen sie allerdings nicht die Vorstände der Troika-Institutionen Europäische Zentralbank, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds – sondern deren technokratische Statthalter, die in Athen die Kürzung des Mindestlohns anordneten, Gesetzesvorhaben ablehnten und manchmal verlangten, das Parlament zu übergehen.
Deutsche Schulden
Ziemlich sicher empört hat in Berlin, dass Syriza auch auf eine besondere deutsche Schuld hinweist. Nur Stunden nach der Vereidigung legte der neue Ministerpräsident Tsipras Rosen vor ein Denkmal, das an die Exekution 600 griechischer WiderstandskämpferInnen erinnert. Während der deutschen Besatzung 1941 bis 1944 hatten Nazis und Wehrmacht in Griechenland rund 90 000 Menschen getötet, weitere 58 000 griechische Jüdinnen und Juden wurden in die Gaskammern verschleppt. Eine Entschädigung für die Familien der Opfer und die Zerstörungen gab es bisher nicht, fast alle Reparationsforderungen hat Berlin brüsk abgewiesen – darunter eine Rückzahlung jener Zwangsanleihe, die das Deutsche Reich 1942 der damaligen griechischen Zentralbank aufzwang (seinerzeit 476 Millionen Reichsmark, heute umgerechnet rund sieben Milliarden Euro ohne Zinsen).
Konsequenterweise widersetzt sich die deutsche Regierung nun der von Syriza erhofften europäischen Schuldenkonferenz, die jener Londoner Schuldenkonferenz 1952/53 ähneln könnte, die die deutschen Schulden strich (siehe WOZ Nr. 5/2015 ). Den Deutschen, so argumentierten Syriza-VertreterInnen während des Wahlkampfs, sei trotz zweier Weltkriege und Holocaust ein Marshallplan genehmigt worden. Warum also nicht ihnen?
Zu Syrizas Stärke gehört ihre unerschrockene Ministerriege – auch wenn ihr, ein grosses Manko, nur Männer angehören. So ist der parteilose Wirtschaftsprofessor Yanis Varoufakis, jetzt Finanzminister, ein exzellenter Fachmann, der zusammen mit Stuart Holland (Britannien) und James K. Galbraith (USA) einen sehr vernünftigen, pragmatischen «bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Eurozonenkrise» vorlegte. Und ein Deutschlandhasser ist er schon gar nicht. Ebenfalls 2013 schrieb er in einem Blog, dass Europa kein autoritäres, aber ein «hegemoniales Deutschland» brauche, das die anderen EU-Staaten nicht mit ökonomischer Gewalt niederringt, sondern am Wohlstand teilhaben lässt.
«Je suis Greek»
Dieser Varoufakis tourt derzeit durch die europäischen Hauptstädte – und trifft auf viel Verständnis. Auch Tsipras ist unterwegs. Die französische Regierung will die griechische Regierung unterstützen, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält die Troika plötzlich für reformbedürftig, selbst der britische Schatzkanzler George Osborne sagte, dass es so nicht weitergehen dürfe. Seit Syriza nicht mehr direkt einen Schuldenschnitt verlangt (sondern eine an das griechische Wirtschaftswachstum gekoppelte Rückzahlung und Anleihen von unbegrenzter Laufzeit), finden ihre Sprecher offene Türen.
Denn alle wissen: Wenn sie sich – wie Berlin – auf die bisherigen Vorgaben der Kreditvergabe versteifen, sind ihre Milliarden verloren. Und sie wissen auch, wer durch aggressive Wettbewerbsorientierung und Niedriglohnpolitik erheblich zur Destabilisierung der Eurozone und zur griechischen Misere beigetragen hat.
Der zunehmende Widerstand gegen die Austeritätspolitik fand am Samstag auch auf Spaniens und Irlands Strassen einen Ausdruck: In Madrid folgten rund 150 000 Menschen einem Aufruf der jungen Partei Podemos. Und in Irland kam es an Dutzenden von Orten zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen die einst von der Troika empfohlene neue Wassersteuer. «Je suis Greek» stand auf einem der vielen Transparente.