Ukraine: Die verhärteten Fronten aufweichen

Nr. 12 –

In der ostukrainischen Metropole Charkiw sind die Gräben zwischen der proeuropäischen und der prorussischen Bewegung tief. Begegnungen zwischen diesen Gruppen sollen Gemeinsamkeiten betonen.

Strassen, Gebäude und Autos sind geprägt vom Gelb-Blau der ukrainischen Nationalfahnen. Cafés, Discos, Jazzbars sind geöffnet, jeden Morgen sind die Busse zur Hauptverkehrszeit übervoll, in den Einkaufszentren pulsiert das Leben. 40 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze und 150 Kilometer von der Front im Donbass entfernt, geht das Leben in Charkiw, der mit 1,4 Millionen EinwohnerInnen zweitgrössten Stadt der Ukraine, scheinbar seinen gewohnten Gang.

Doch unter der friedlichen Oberfläche brodelt es. Am 22. Februar verübten Unbekannte einen Anschlag auf einen Demozug von Maidan-AktivistInnen; vier Menschen starben. Im Gegensatz zu Kiew sind in Charkiw (russisch Charkow) die AnhängerInnen des Maidan in der Minderheit. Als sich wenige Tage nach dem Terroranschlag Angehörige und WeggefährtInnen von zwei Ermordeten verabschiedeten, liess sich niemand von der Stadtverwaltung bei der Trauerveranstaltung sehen, auch der Bürgermeister nicht.

Diese verhaltene Reaktion auf den Tod der Maidan-Aktivisten zeigt, dass die proeuropäisch Gesinnten auch in der lokalen Regierung in der Minderheit sind. Als am 26. Februar dem Maidan nahestehende StadträtInnen eine Resolution in den Rat einbringen wollten, die Russland als Aggressor im Ukrainekrieg brandmarken sollte, stimmten nur 17 PolitikerInnen für die Aufnahme dieses Traktandums auf die Tagesordnung, 47 waren dagegen. Zuvor hatte Bürgermeister Hennadi Kernes gegen die Resolution Stimmung gemacht. In Kiew schlug die Entscheidung des Charkiwer Stadtrats hohe Wellen. Man solle Kernes als Bürgermeister ablösen, besser sogar noch ihn erschiessen, sagte Oleh Ljaschko, Chef der rechtspopulistischen Radikalen Partei, zur ukrainischen Tageszeitung «Vesti». Die Stimmung in Charkiw ist sehr gespannt: Proeuropäisch und prorussisch Orientierte sprechen nicht einmal mehr miteinander.

Begegnungen im kleinen Kreis

Eine, die sich mit dieser Situation nicht abfinden will, ist Alena Kopina. «Wir müssen die wachsende Polarisierung in der Stadt aufweichen», sagte die vierzigjährige Soziologin und beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Im letzten Sommer nahm sie Kontakt zur Maidan- und Anti-Maidan-Bewegung auf, lud VertreterInnen zu Gesprächen im kleineren Kreis ein. Unter dem Dach der seit 1998 tätigen nichtstaatlichen Organisation «Stiftung für kommunale Demokratie» finden inzwischen regelmässig Zusammenkünfte von prorussisch und proeuropäisch denkenden BürgerInnen statt. Sie werden aufgezeichnet und im Internet veröffentlicht.

Alena Kopina ist es wichtig, in diesen Gesprächen auch die Gemeinsamkeiten der TeilnehmerInnen herauszuarbeiten – sei dies nun die Kindheit in der Sowjetunion, seien das wirtschaftliche und berufliche Fragen, Verwandte, die in Russland leben, die Berichterstattung in der einheimischen Presse oder die Identität der BewohnerInnen von Charkiw. In einer geschlossenen Facebook-Gruppe kommunizieren VertreterInnen beider politischer Ausrichtungen.

«Inhaltlich hat sich niemand durch diese Gespräche vom Gegenteil überzeugen lassen», so die Aktivistin. «Doch atmosphärisch hat sich etwas getan: Durch die Gespräche wurden informelle Kanäle zwischen den Gruppen gestärkt. Leute haben einander zugehört, die bisher gegeneinander demonstriert haben.» Die TeilnehmerInnen hätten anfangs erst mal richtig Dampf abgelassen und sich auch beschimpft. Sie spüre nun aber weniger Kraft in dieser Feindschaft.

Sechzig AktivistInnen sind am 15. März der Einladung von Alena Kopina gefolgt, die zu einem Vortrag und einem Film des norwegischen Friedensforschers Steinar Bryn eingeladen hatte. Auch da sassen Personen in einem Raum, die normalerweise gegeneinander auf die Strasse gehen. Die Chefin der örtlichen KommunistInnen war genauso anwesend wie stadtbekannte Maidan-AktivistInnen. Bryn, Rektor der norwegischen Nansen-Schule, berichtete von seiner Dialogarbeit im Nahen Osten und im ehemaligen Jugoslawien. Gleichzeitig präsentierte er den Film «Reunion – Ten Years After the War», der Gespräche zwischen SerbInnen und AlbanerInnen dokumentiert.

«Seid ihr jetzt glücklich?»

Die Reaktion der ZuhörerInnen war sehr unterschiedlich. «Einfach war es nicht, die Gesprächsprotokolle im Film von Steinar Bryn bis zu Ende anzusehen», sagte die Veranstalterin unmittelbar nach der Filmvorführung. «Besonders geht mir ein Dialog nach, in dem eine ‹Verliererin› fragt: ‹Und, seid ihr jetzt glücklich? Ist es euch jetzt leichter?› Und die ‹GewinnerInnen› des Krieges können nicht antworten, schweigen nur.»

Tatiana Trebina ist von Bryns Film begeistert. «Dieser Film müsste in der ganzen Ukraine gezeigt werden», sagt die Teilnehmerin. «Wir dürfen nicht denselben Fehler begehen wie die Menschen in Exjugoslawien. Wir müssen diesen Krieg beenden. Denn es wird keine Sieger geben, nur einen Verlierer. Und das ist das ukrainische Volk.»

Alena Kopina ist sicher, dass solche Zusammenkünfte die Stimmung in der Stadt entschärfen können: «Die hiesige Gesellschaft hat es lange versäumt, eine Kultur des Dialogs zu entwickeln. Vielfach wird bei der Lösung von Konflikten nur auf Gewalt gesetzt.» Charkiw habe eine lange Tradition als Stadt der HändlerInnen, ruft die ukrainische Mediatorin in Erinnerung. «Diese Tradition von Handeln und Verhandeln, die in unserer Stadt immer eine Rolle gespielt hat, müssen wir wiederbeleben.»

Waffenstillstandsabkommen Minsk II : «Tausendmal gebrochen»

Eigentlich sollte das zweite Abkommen von Minsk den Weg zu einer Beilegung des Ukrainekonflikts ebnen. Am 12. Februar hatten Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine in der weissrussischen Hauptstadt eine Waffenruhe vereinbart, bald sollten eine Pufferzone eingerichtet und schwere Waffen abgezogen werden. Inzwischen ist Ernüchterung eingetreten. «Die Wahrheit ist, dass das Abkommen nicht funktioniert», sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko diese Woche im Interview mit der «Bild»-Zeitung – und forderte erneut Waffenlieferungen.

Tatsächlich: Die Tinte auf dem Vertrag von Minsk war kaum getrocknet, da vermeldete Kiew den Fall von Debalzewe. Damit war die Waffenruhe faktisch hinfällig. Auch wenn alle Parteien nach wie vor nominell am Abkommen festhalten: Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Verstösse gemeldet werden. So sollen laut Rebellenangaben am Wochenende zwei Menschen gestorben sein, als ukrainische Einheiten auf einen Lastwagen der Rebellen feuerten. Bei einem anderen Zwischenfall soll ein ukrainischer Kämpfer getötet worden sein. Insgesamt wurde die Waffenruhe laut ukrainischen Angaben über tausendmal gebrochen.

Doch Minsk II für gescheitert erklären, das will im Moment niemand. Das hat auch die deutsche Kanzlerin am Montag bei ihrem Treffen mit Poroschenko klargemacht. Nach seinem Besuch bei Angela Merkel ruderte der ukrainische Staatschef zurück: Zu Minsk gebe es keine Alternative, sagte er vor den Medien.

Wie es mit den Friedensbemühungen weitergeht, hängt also von der Einhaltung des Abkommens ab. Mit dem Abzug schwerer Waffen von der Front geht es inzwischen voran, wenn auch nur langsam. Doch nun sorgt ein Gesetzesentwurf, den das ukrainische Parlament am Dienstag genehmigt hat, für Zündstoff: Den Rebellengebieten Donezk und Luhansk soll zwar ein Sonderstatus eingeräumt werden, doch ohne die seit Minsk gewonnenen Gebiete zu berücksichtigen, und erst, wenn Kommunalwahlen nach ukrainischem Recht stattgefunden haben. Für die Rebellen ist dies ein Vertragsbruch. «Kiew zertritt den brüchigen Minsker Frieden», erklärten die Anführer der beiden «Volksrepubliken» umgehend.

Anna Jikhareva