Die Linke und der Service public (11): Online büffeln und fern heilen

Was haben die Liberalisierungsverhandlungen der Welthandelsorganisation WTO mit dem Service public in der Schweiz zu tun? Mehr jedenfalls als Couchepins Staatssekretariat für Wirtschaft seco meint.

Vor einem Jahr scheiterte in Seattle die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO. Eine neue Liberalisierungsrunde des Welthandels wurde dadurch zunächst verhindert. In Genf gehen die Verhandlungen im Landwirtschafts- und Dienstleistungsbereich allerdings trotzdem weiter. So hatte dies die letzte Verhandlungsrunde, die so genannte Uruguay-Runde, der WTO-Vorgängerorganisation GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) festgelegt.
Gegen die Aufnahme von Dienstleistungen in die Verhandlungen hatten sich ursprünglich insbesondere die ärmeren Länder vehement gewehrt. Ihre Dienstleistungsbranchen seien zu schwach entwickelt, argumentierten sie, als dass sie einer verfrühten Marktöffnung und dem daraus resultierenden verschärften Wettbewerb standhalten könnten. Dass es dennoch zur Einigung auf das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) kommen konnte, ist vor allem auf die Lobbyarbeit grosser Dienstleistungskonzerne der Industrieländer zurückzuführen. Mit dem GATS wollen sie eine weltweite Öffnung der Dienstleistungsmärkte erreichen.
Das GATS ist im jetzigen Zustand noch relativ harmlos. Jedes Land kann mittels so genannter positiver Listen entscheiden, welche Bereiche es liberalisieren möchte. Allerdings ist das Abkommen sehr vage formuliert und bildet erst den Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen. Selbst der ehemalige WTO-Direktor, Renato Ruggiero, meinte nach dessen Zustandekommen: «Das Dienstleistungsabkommen GATS umfasst Bereiche, die noch nie zuvor als Handelspolitik angesehen wurden. Ich vermute, dass weder die Regierungen noch die Geschäftswelt die volle Reichweite der eingegangenen Verpflichtungen erkannt haben.» Bereits in der nächsten Verhandlungsrunde könnte beispielsweise das öffentliche Beschaffungswesen zur Diskussion stehen. Werden die WTO-Regeln auf öffentliche Beschaffungen ausgedehnt, verkleinert sich der Spielraum von Regierungen, Regierungsaufträge an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, wie etwa die Einhaltung von Menschenrechten oder Umweltschutzauflagen.
Die WTO-Verhandlungen über den Dienstleistungssektor, die gegenwärtig vorbereitet werden, könnten weltweit einen gewaltigen Abbau des Service public zur Folge haben. Bis im März 2001 sollen die entsprechenden Vorschläge der einzelnen Länder auf dem Tisch liegen. Bezüglich der Dienstleistungsverhandlungen gibt sich die Schweiz neuerdings zurückhaltend. Man wolle die Vorschläge der anderen Länder abwarten, so der Tenor von offizieller Seite. Letztes Jahr noch hatte die Schweiz offensiv eine breite Liberalisierung des Dienstleistungssektors gefordert: kein Bereich sollte von vornherein von den Verhandlungen ausgeschlossen werden. Das bedeutet, dass sogar das Gesundheits- oder das Bildungswesen – beide Bereiche waren bis anhin stark staatlich reguliert – verhandelbar und dem Wettbewerb ausgesetzt werden könnten.

Service Americain statt Service public?

Die USA sind die weltweit grösste Anbieterin von privaten Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. Entsprechend gross ist das US-amerikanische Interesse an einer Marktöffnung: Auch die Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungsbereich sollen den WTO-Regeln und somit den Marktmechanismen unterstellt werden. In einem Positionspapier legten die USA bereits im letzten Februar sehr offenherzig dar, dass es ihnen darum geht, ihren Dienstleistungsunternehmen weltweit maximale Marktzutrittsmöglichkeiten zu eröffnen. Welche Dimensionen eine solche Liberalisierung annehmen kann, zeigt ein Blick auf die gemeinsame Website der WTO und der Uno-Organisation für Handel und Entwicklung Unctad. Da werden Firmen auf Investitionsmöglichkeiten im Bereich Telemedizin und Telebildung aufmerksam gemacht: Immer mehr Regierungen seien nicht mehr fähig, in ihren Ländern eine medizinische Versorgung zu garantieren, deshalb wachse der Markt für private Gesundheitsleistungen. Die Website preist Gesundheitsberatung und Konsultationen per Internet als eine grosse Chance für eine bessere Gesundheitsversorgung – speziell auch für ärmere Länder. Und sie weist Firmen auf das Potenzial hin, das in der Telebildung steckt. Heutzutage müssten sich die Menschen ein Leben lang weiterbilden, mit Internetanschluss und Bildschirm könne dieser Anspruch erfüllt werden.
Durch die vermehrte Präsenz privater Investoren im Gesundheits- und Bildungswesen nimmt die Gefahr zu, dass sich Regierungen ihrer Grundaufgaben (flächendeckende und für alle erschwingliche Leistungen bereitzustellen) endgültig entledigen. Und das nicht nur in den ärmeren Ländern: Auch in Europa könnte der Druck wachsen, bei den sozialen Ausgaben noch mehr zu sparen. Auch Europa droht also ein amerikanisches Zweiklassensystem mit Eliteschulen für die Vermögenden und einer miserablen Staatsschule für die Ärmeren.

Die WTO regiert schon im Bergell

Aus Couchepins Staatssekretariat für Wirtschaft seco dringen derzeit nur beruhigende Töne zum GATS. «Einen Zusammenhang zwischen den laufenden Dienstleistungsverhandlungen in der WTO und einem drohenden Abbau des Service public in der Schweiz sehe ich nicht – dies müssen Sie mir erklären», sagt auf Anfrage der Verantwortliche für die Dienstleistungsverhandlungen Henri Gétaz. Und auch Botschafter Luzius Wasescha, Delegierter für Handelsverträge beim seco, betont, bei den WTO-Verhandlungen gehe es lediglich um handelbare Dienstleistungen, der Service public sei davon in keiner Weise betroffen.
Sind die hitzigen Diskussionen um die Privatisierung der Swisscom vielleicht spurlos am seco vorbeigegangen? Sie zumindest hatten sehr wohl mit der WTO zu tun. Am 15. Februar 1997 wurde in der WTO ein «unerledigtes» Dossier aus der Uruguay-Runde «bereinigt». Nach zähen Verhandlungen gingen damals 69 Regierungen die Verpflichtung ein, ihren Telekommunikationsbereich zu liberalisieren und sowohl die inländische als auch die ausländische Konkurrenz zuzulassen. Besonders umstritten war dabei die Definition der Grundversorgung in der Telekommunikation. Auch die Schweiz verpflichtete sich zu einer umfassenden Marktöffnung ab dem 1. Januar 1998. Das schweizerische Fernmeldegesetz, das bis zu diesem Zeitpunkt noch vom Monopol der PTT ausging, musste geändert werden. Um sie für den kommenden Wettbewerb fit zu machen, wurden Post und Telecom innert kürzester Zeit getrennt. Denn erst als eigenständiger Betrieb konnte die Telecom, neu Swisscom genannt, im Schnellzugstempo teilprivatisiert, konnten die Angestellten entlassen oder auf privatrechtlicher Basis weiterbeschäftigt werden. Quersubventionen zwischen der gut rentierenden Telekommunikation und der schlechter rentierenden Post waren fortan nicht mehr möglich.
Die Folgen dieser Liberalisierungsschritte sind heute schon spürbar: insbesondere in den Randregionen nahm der Service public der Post seither deutlich ab. Zahlreiche Poststellen wurden geschlossen. Anders als in städtischen Gebieten hatten diese Schliessungen in den Berggemeinden viel einschneidendere Folgen. Postfilialen in Bergtälern bieten nämlich meistens umfassendere Dienste an und erfüllen auch eine soziale Funktion. Beispiel Bergell: Auf den kleinen Postämtern finden sich heute weder öffentliche Telefone noch Telefonbücher, noch Kursbücher mit den Fahrplänen für Postautos. Die meisten Autobuslinien im Oberengadin, auch jene über den Berninapass, werden schliesslich auch nicht mehr von der Post bedient.

Zur Autorin

Marianne Hochuli ist verantwortlich für den Programmbereich Handelspolitik bei der Erklärung von Bern (EvB). Als Autorin zeichnete sie für das EvB-Positionspapier zum Dienstleistungsabkommen GATS: «Die WTO zu wessen Diensten?»