Lateinamerika: Die Niederlage einer Notlösung
Nach der Wahl in Argentinien ist klar: Der Linksperonismus hat verloren. Die lateinamerikanische Linke kann aus dieser Schlappe einiges lernen.
Es war ein knappes Ergebnis: Mit gerade einmal 51,4 Prozent der Stimmen hat Mauricio Macri von der konservativen Partei Propuesta Republicana am 22. November die Stichwahl um die Präsidentschaft Argentiniens gewonnen. Trotzdem nahmen das die KommentatorInnen als Zeichen eines radikalen Umschwungs. Die Wahl spiegle «den dezidierten Wunsch der Bevölkerung nach einem Wandel» wider, meinte das spanische Blatt «El País». Die «Süddeutsche Zeitung» sah das «Ende einer Epoche» und meinte damit nicht nur Argentinien, sondern gleich alle «linken Latino-Projekte». Selbst die linke «taz» aus Berlin schwadronierte vom «Niedergang linker Regierungen in der Region» und zählte sie alle auf, von Argentinien über Bolivien und Venezuela bis zu Kuba, das nur deshalb diplomatische Entspannung mit den USA suche, weil es «die Mängel des lateinamerikanischen Sozialismus» erkannt habe.
Lieber gleich das Original?
Nun ist es im vergangenen Jahrzehnt in Lateinamerika nie um Sozialismus gegangen, auch wenn in Venezuela, Bolivien und Ecuador gerne von einem «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» geredet wird. Der Kapitalismus wurde nirgendwo grundsätzlich infrage gestellt – ausser in Kuba, und dort wird er es bis heute. Hugo Chávez in Venezuela und all die anderen mehr oder weniger linken PräsidentInnen, die nach seinem Sieg von 1998 gewählt wurden, waren und sind SozialreformerInnen. Sie haben den Rohstoffboom genutzt, um die damit generierten Einnahmen umzuverteilen, und dabei vor allem die Ärmsten berücksichtigt. Das ist viel in Lateinamerika, wo sich traditionell wenige Familien den Reichtum eines Landes unter den Nagel reissen. Jetzt aber, wo der Boom vorbei ist, fehlt das Geld zum Verteilen, und die linken Regierungen haben keinen Plan parat.
Es ist richtig: In Argentinien hat der Linksperonismus verloren. Aber er hätte es auch, wenn nicht der neoliberale Macri, sondern Daniel Scioli gewonnen hätte. Denn Scioli ist zwar Peronist, aber eben kein Linksperonist. Wie Macri kommt er aus einer der reichsten Familien des Landes. Wie Macri hat er im Wahlkampf gesagt, er werde einen Ausgleich suchen mit den Geierfonds, die nach dem Staatsbankrott 2002 argentinische Anleihen zu Schleuderpreisen aufgekauft haben und nun den vollen Nennwert einklagen. Wie Macri hat er angekündigt, er werde die Landeswährung abwerten und die Devisenkontrollen lockern.
Zwar haben beide zumindest versprochen, die linksperonistischen Sozialprogramme nicht anzutasten. Trotzdem: Wenn die Linke so sehr in die politische Mitte drängt und keine anderen Rezepte anbietet als die neoliberale Rechte – warum dann nicht gleich das Original wählen? Im Fall von Argentinien kommt hinzu, dass der nicht eben charismatische Scioli eher eine Notlösung war. Der Wahlausgang war somit mehr seine Niederlage denn ein Sieg von Macri.
Die Probleme der Linken
Das Ergebnis der Wahl in Argentinien zeigt auch idealtypisch die Probleme der Linksregierungen Lateinamerikas: Da ist zunächst die Krise der Rohstoffpreise. Man kann der Linken nicht vorwerfen, dass in China das Wirtschaftswachstum stottert und in der Folge die Nachfrage schwindet und die Preise in den Keller gedrückt werden. Aber die Regierungen Lateinamerikas waren darauf schlecht oder gar nicht vorbereitet. In Venezuela wurde die Abhängigkeit vom Erdöl unter Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro noch grösser statt kleiner. Auch Präsident Rafael Correa in Ecuador erschliesst angesichts sinkender Preise immer mehr Ölquellen und muss trotzdem Sozialprogramme einschränken. Damit bringt er ehemals Verbündete wie Indígena-Bewegungen, Umweltverbände und Gewerkschaften gegen sich auf. Brasilien und Argentinien sind vom Export landwirtschaftlicher Produkte abhängig, Bolivien vom Export seines Erdgases.
Immerhin hat Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández versucht, eigene Verwertungsketten aufzubauen und nicht nur Rohstoffe zu exportieren. Ihr Kollege Evo Morales in Bolivien tut es weiterhin, indem er den Rohstoff Lithium nicht nur aus dem Salzsee von Uyuni herausholen lässt, sondern auch die Produktion von Batterien im Land fördert (siehe WOZ Nr. 35/2014 ). Aber Industrialisierung ist ein langsamer Prozess, die Krise kam zu schnell. Trotzdem: In Argentinien stagniert die Wirtschaft nur, sie steckt nicht in einer Rezession, in Bolivien wächst sie noch immer moderat.
Die zweite Lehre aus Sciolis Niederlage: Die charismatischen linken PräsidentInnen haben es versäumt, rechtzeitig gewichtige NachfolgerInnen aufzubauen. Chávez bestimmte erst kurz vor seinem Tod mit Maduro einen Mann zum Machthaber, der bestenfalls ein uninspirierter Imitator seines Ziehvaters ist. Auf Brasiliens Volksliebling Lula da Silva folgte die heute reichlich unbeliebte Dilma Rousseff. In Bolivien ist kein Ersatz für den seit zehn Jahren regierenden Evo Morales in Sicht, weshalb seine AnhängerInnen eine Verfassungsänderung anstreben, die dessen endlose Wiederwahl ermöglichen soll. In Nicaragua hat sich Daniel Ortega diese Möglichkeit längst geschaffen.
Drittens: Wenn nur eine Notlösung bei einer Präsidentschaftswahl antritt und sich dann auch noch beim Kapital anbiedert, ist ihre Niederlage so gut wie gewiss. Scioli ist nicht der Erste, dem das widerfahren ist. Chiles Mitte-links-Regierung Concertación hat das schon 2010 erfahren, als sie den längst abgehalfterten ehemaligen christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei zum Notkandidaten machte. Und weil die Concertación ohnehin nur Verwalterin des vom Diktator Augusto Pinochet geschaffenen neoliberalen Staatsmodells war, lag es nahe, dass es die ChilenInnen auch mal mit einem echten neoliberalen Unternehmer versuchen würden. Mit Sebastián Piñera wurde der reichste Mann des Landes Präsident. Der Spuk dauerte vier Jahre. Dann kam die Sozialistin Michelle Bachelet zurück an die Macht. Ihr Wahlsieg (62,2 Prozent in der Stichwahl) fiel auch deshalb so überwältigend aus, weil sie zum ersten Mal gemeinsam mit der Kommunistischen Partei antrat und so ihrem Bündnis ein deutlich linkeres Profil gab.
Den Kapitalismus bändigen
Trotz rechter Wahlsiege 2010 in Chile und nun in Argentinien: Es ist nicht so, dass die WählerInnenschaft Lateinamerikas nach rechts gerückt wäre. Im Gegenteil. Sie hat gelernt, dass ein Staat nicht nur aus ein paar Familien bestehen muss, die sich selbst bereichern. Sie will mitreden, stellt Forderungen, hat begriffen, dass die Regierenden letztlich ihre Angestellten sind. Wenn die Linke keinen Weg aus den Problemen weist, wenn sie sich dem Kapitalismus lieber anpasst, als ihn zu bändigen, kann sie auch einmal abgewählt werden. Dieses Selbstbewusstsein ist vielleicht der grösste Gewinn einer guten Dekade von Linksregierungen.
Die nächste Schlappe droht
Venezuela steckt tief in der Krise: Versorgungsengpässe führen zu langen Schlangen vor den Läden, der Anteil der Armen steigt, die Inflation liegt bei rund 200 Prozent, die Wirtschaft schrumpft in diesem Jahr um voraussichtlich sieben Prozent. Kein gutes Umfeld für Präsident Nicolás Maduro und seine Sozialistische Einheitspartei, um sich am 6. Dezember einer Parlamentswahl zu stellen.
Entsprechend düster sehen die Umfragen aus. Die meisten sagen dem rechten Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit rund sechzig Prozent der Stimmen voraus.