Die Linke in Lateinamerika: Die linke Dekade Lateinamerikas war nicht revolutionär; sie war ein Jahrzehnt der Sozialpolitik.
Kein Zweifel: Im Angesicht von Wirtschaftskrise und Korruption straucheln linke Regierungen in Lateinamerika. Trotzdem wäre ein Abgesang auf die progressiven Jahre verfrüht.
Das traurigste Beispiel liefert derzeit Brasilien: In dem multikulturellen Land sägt ein schwerreicher Klüngel korrupter weisser Männer mit vordergründig legalen, mindestens aber winkeladvokatischen Mitteln eine demokratisch gewählte linke Präsidentin ab. Zuvor hat in Argentinien der rechte und knallhart neoliberale Mauricio Macri die Präsidentschaftswahl nach zwölf Jahren Linksperonismus knapp gewonnen. In Bolivien hat der linke Evo Morales ein Referendum verloren, das ihm im Fall eines Siegs die Möglichkeit eröffnet hätte, 2019 ein viertes Mal in Folge Präsident seines Landes zu werden. In Chile ist die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet zweieinhalb Jahre nach ihrem überwältigenden Wahlsieg in einem lang anhaltenden Beliebtheitstief. Von Venezuela ganz zu schweigen: die höchste Inflation weltweit, eine dramatisch schlechte Versorgungslage der armen Bevölkerung, eine aggressive rechte Opposition im Aufwind und ein sich immer hilfloser und autoritärer wehrender Präsident Nicolás Maduro. Es ist kein Wunder, dass angesichts dieses Panoramas gerne das Ende der linken Dekade in Lateinamerika heraufbeschworen wird.
Die Unzufriedenheit grosser Teile der Bevölkerung lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber sie hat nichts mit linker Politik zu tun. Niemand, der durch Sozialprogramme linker Regierungen das Elend überwunden hat oder gar in die untere Mittelschicht aufgestiegen ist, niemand, dessen Kinder durch linke Bildungspolitik ein bisschen mehr Chancen im Leben haben, will, dass dies wieder rückgängig gemacht wird.
Unzufriedenheit herrscht wegen der Wirtschaftskrise: Venezuelas Bruttoinlandsprodukt stürzt ab, das von Brasilien und Argentinien schrumpft, in allen anderen Ländern hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich abgeschwächt. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Preise steigen mit. Das hat zunächst mit deutlich gesunkenen Erlösen für exportierte Rohstoffe zu tun – eine Folge der Nachfrageflaute in China, die durch Spekulation um ein Vielfaches verstärkt wird. Für Erdöl wird heute auf dem Weltmarkt ein Drittel der Boompreise von vor vier Jahren bezahlt, für Soja nur noch rund die Hälfte.
Das Übel der Bodenschätze
Die linken Regierungen müssen sich vorwerfen lassen, wirtschaftspolitisch kurzsichtig und auf einen solchen Preissturz nicht vorbereitet gewesen zu sein. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind fast durchweg weiterhin vom Export von Rohstoffen abhängig, eine Diversifizierung der Wirtschaft wurde – wenn überhaupt – viel zu zögerlich angegangen. Venezuela hat sogar mehr denn je einzig und allein auf Erdöl gesetzt. Ausser Bolivien hat kein Land in den goldenen Jahren nennenswerte Reserven für schlechtere Zeiten angelegt.
Zur wirtschaftspolitischen Kurzsichtigkeit gesellte sich ein Übel, das aus praktisch allen rohstoffreichen Staaten der Welt längst bekannt ist: Je mehr Bodenschätze ein Land besitzt, desto grösser ist für die Regierenden die Versuchung der Korruption. Warum sollten da Emporkömmlinge der neuen bolivarischen Elite Venezuelas oder OpportunistInnen in der brasilianischen Arbeiterpartei besser sein? Chile, dachte man lange, sei in dieser Hinsicht halbwegs immun. Aber auch dort haben Schmiergeldskandale und Vetternwirtschaft das Umfeld der sozialistischen Präsidentin erreicht.
Es ist die Kombination aus Krise und Korruption, die die Menschen aufbringt. Fatalerweise reagieren die linken Regierungen darauf mit Angst vor den eigenen politischen Grundsätzen, obwohl gerade jetzt Mut und Durchhaltevermögen gefragt wären. In Chile, wo derzeit ein neues Arbeits- und Streikrecht debattiert wird und eine Bildungsreform zaghaft angelaufen ist, rudert Bachelet schon wieder zurück und sagt, die Umsetzung ihrer Reformpolitik müsse an die Wirtschaftslage angepasst werden. Damit meint sie: Lieber Abstriche machen als KapitalbesitzerInnen mit stärkeren Gewerkschaften und höheren Steuern erschrecken. Im kriselnden Argentinien rückten die PeronistInnen noch weiter nach rechts und präsentierten bei der vergangenen Wahl mit Daniel Scioli einen Kandidaten ihres wirtschaftsliberalen Flügels, der sich programmatisch kaum vom dann siegreichen Macri unterschied.
Die andere Revolution
Natürlich nutzt die Rechte jeden Sieg, egal ob er an der Wahlurne errungen oder – wie in Brasilien – hinterrücks erschlichen wurde: Staatsbetriebe werden privatisiert, Steuern für Unternehmen gesenkt; und wenn dann das Geld ausgeht, werden Sozialprogramme und Subventionen zusammengestrichen. Es ist das Rezept der früheren neoliberalen Jahre; eine Umverteilung von unten nach oben. Und weil nirgendwo – nicht einmal in Venezuela – der Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell von den Linksregierungen infrage gestellt worden ist, lässt sich das auch ganz schnell bewerkstelligen. Die linke Dekade Lateinamerikas war in dieser Hinsicht nicht revolutionär; sie war ein Jahrzehnt der Sozialpolitik.
Und doch hat Lateinamerika in diesem Jahrzehnt eine Art Revolution erlebt. Die linken Regierungen kamen allesamt durch Wahlsiege an die Macht, durch Wählerinnen und Wähler, die sich nicht mehr durch Versprechungen und Wahlgeschenke der immer gleichen Elite für dumm verkaufen lassen. Diese Basis mag im Angesicht von Krise und Korruption bröckeln. Das Bewusstsein der eigenen Kraft aber ist ungebrochen.
Am greifbarsten ist das in Bolivien, wo die Indígenas – also die Mehrheit im Land – für Jahrhunderte bestenfalls DienstbotInnen waren und sich kaum trauten, Weissen in die Augen zu schauen. Nach zehn Jahren Regierung unter Evo Morales wissen sie: Wir können ein Land regieren, und wir können es besser, als es die Weissen je getan haben. Dieses Selbstbewusstsein kann ihnen niemand mehr nehmen. Im Nachbarland Chile, wo Bachelet nicht zuletzt mit der breiten Unterstützung für die StudentInnenbewegung zurück an die Macht gekommen ist, geht die Jugend weiterhin massenhaft auf die Strasse und fordert trotz Krise die versprochenen Reformen ein. In Argentinien formiert sich der Widerstand gegen Macris Kahlschlagprogramm. Solch kämpferisches Selbstbewusstsein ist sogar in Ländern entstanden, die in den vergangenen Jahrzehnten keine linke Regierung hatten: In Guatemala hat eine wie aus dem Nichts entstandene neue Protestbewegung eine korrupte rechte Regierung gestürzt.
Das ist vielleicht das grösste und nachhaltigste Verdienst von charismatischen Figuren wie Hugo Chávez und Lula da Silva, Evo Morales und Cristina Fernández: Sie haben sich von einer erwachenden Basis tragen lassen und gezeigt, dass eine andere Politik möglich ist; dass, wer bitterarm geboren wurde, nicht ewig bitterarm bleiben muss. Die Zeit dieser grossen linken Figuren mag in Lateinamerika zu Ende gehen. Ihre NachfolgerInnen zaudern und schwächeln. Die Bewegungen an der Basis aber tun es nicht. Wer vom Ende der linken Epoche spricht, blickt nur nach oben. Unten fängt diese Epoche erst an.