Kinofilm «Sibylle»: Bis der Boiler blutet

Nr. 3 –

Was ist denn hier los? Ein italienischer Rambo ballert sich den Weg frei gegen die Sowjets, am Ende fliegt alles in die Luft, in einer filmreifen Explosion. Mission erfüllt, die Bösen sind besiegt, die deutsche Familie auf der Tribüne applaudiert. Wir sind im Movieland Park am Gardasee, wo die Architektin Sibylle (Anne Ratte-Polle) mit Mann und Kindern Urlaub macht. Die luxuriöse Feriensiedlung, in der sie wohnen, wirkt wie ausgestorben, es ist Nachsaison. Frühmorgens bei einem Spaziergang an der felsigen Küste kreuzt sie eine Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Als Sibylle wenig später umkehrt, liegt die Doppelgängerin am Fuss der Klippen. Tot? Noch nicht ganz.

Es ist der Auftakt zu einer Charakterstudie, die zusehends in ein Delirium der Angst abgleitet. «Sibylle» ist der Diplomfilm des gebürtigen Schwyzers Michael Krummenacher, der damit sein Studium an der Filmhochschule in München abschloss. Für Aufsehen sorgte er zuletzt als einer der Initianten des Films «Heimatland», seine eigene Episode über eine Bürgerwehr in einem Bergdorf gehörte darin zu den stärksten. In seinem Abschlussfilm, noch vor «Heimatland» entstanden, bewegt er sich jetzt überaus souverän in den reizvollen Zonen von Beklemmung und psychologischem Horror.

Zurück aus den Ferien, sieht sich Sibylle auch daheim in München verfolgt von Echos ihrer verstörenden Begegnung. Ein befreundeter Arzt verordnet ihr Ruhe, der Ehemann, im Geschäft sonst keine grosse Hilfe, nimmt das zur Gelegenheit, um endlich das gemeinsame Architekturbüro an sich zu reissen. Der pubertierende Sohn schliesslich will seinen Körper mit Bodybuilding stählen und wandelt sich allmählich zum rabiaten Macker. Oder ist alles nur Einbildung einer derangierten Frau, der seit jenem Zwischenfall an der Küste alles wegzubrechen droht, worauf sie bislang ihre Existenz gründete? Wo hört die Wirklichkeit auf, wo fängt der Wahn an?

Krummenacher bietet das ganze filmische Arsenal des Unheimlichen auf, um die gestörte – oder geschärfte? – Wahrnehmung seiner Protagonistin erfahrbar zu machen: Unschärfen, Tunnelbilder, Störgeräusche, auch vor einer starken Dosis Kunstnebel schreckt er nicht zurück. Auf der Tonspur ist immer wieder ein gespenstisches Wispern zu hören, und wenn das Telefon klingelt, ist die Verbindung immer so schlecht, dass man nur die Hälfte versteht. Als Sibylle in Italien das Hotel der toten Doppelgängerin aufsucht, findet sie sich dort in einem Komplex wie von Dario Argento, und die Angestellten stehen da wie von David Lynch persönlich platziert. Einmal blutet ein Boiler, und ein Bub mit Dreirad (Kubrick!) darf auch nicht fehlen.

Hat da einer zu viele filmische Vorbilder aufgesogen? Mag sein. «Sibylle» ist eine Etüde des Unheimlichen, in der viele Überväter herumspuken. Aber wie Krummenacher die Versatzstücke des Genrekinos zu einem doch ziemlich eigenständigen Fiebertrip verdichtet, das ist: beeindruckend.

In: Solothurn, Konzertsaal, Sa, 23. Januar 2016, 21 Uhr, und im Landhaus, Mi, 27. Januar 2016, 20.30 Uhr.

Sibylle. Regie: Michael Krummenacher. Deutschland 2015