«Amann contre Suisse»: Der Anruf aus der Sowjetbotschaft

Nr. 45 –

Hermann J. Amann betrieb Handel mit pharmazeutischen Produkten. 1981 wurde bei ihm telefonisch ein Haarentfernungsgerät bestellt. Das Gespräch machte den Kaufmann zum Verdächtigen des Fichenstaats. Erst der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wertete die Überwachung als unrechtmässig.

Das Inserat, das zum Gerichtsprozess führte, war am 9. Juli 1980 in der Frauenzeitschrift «Femina» erschienen. Mit dem Konterfei einer hübschen jungen Frau warb es für ein Enthaarungsgerät: «Die batteriebetriebene Pinzettenelektrode Perma Tweez befreit Sie schnell und wirkungsvoll vom wiederholten lästigen Rasieren, Zupfen, Depilieren, Wachsen und Konsultationen im Schönheitssalon.» Um die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu untermauern, hiess es weiter: «Viele Personen, Ärzte, Spitäler und Universitätskliniken in den USA bedienen sich erfolgreich dieses Instruments.» Das Gerät sei für nur 59.80 Franken zu bestellen bei der Firma Amann Pharmazeutika, mit einem Coupon oder einem Anruf auf die Telefonnummer 01 57 62 15.

Mehr als zehn Jahre später sollte die Bestellung eines ebensolchen Geräts der Ausgangspunkt einer Verhandlung vor dem Bundesgericht in Lausanne sein – in einem Prozess über den Schweizer Überwachungsstaat, der noch einmal dessen groteske Züge vor Augen führte.

Insgesamt 900 000 Karteikarten, sogenannte Fichen, hatte die Bundesanwaltschaft bis zum Ende des Kalten Kriegs angelegt; rund zwei Drittel davon betrafen AusländerInnen. Bespitzelt wurden vornehmlich Personen aus dem linken, pazifistischen oder ökologischen Spektrum. Die Existenz einer solchen Überwachungskartei war zwar schon länger bekannt gewesen, doch erst Ermittlungen im Nachgang zum Rücktritt der damaligen Justizministerin Elisabeth Kopp hatten 1989 das schier unvorstellbare Ausmass des Registratursystems ans Licht der Öffentlichkeit gebracht.

Angst vor einer Deportation

Der Prozess vor dem Bundesgericht begann am 27. Oktober 1993 mit einer Vorbereitungsverhandlung. Anwesend waren gemäss Protokoll die beiden Bundesrichter Gerold Betschart und Adrian Hungerbühler sowie Gerichtsschreiberin Lüthi. Als Kläger traten Hermann J. Amann und sein Anwalt Ludwig A. Minelli auf, Beklagtes war aufgrund der Forderung nach Genugtuung das Finanzdepartement, vertreten durch Christiane Aeschmann. Verhandlungsgegenstand: Amanns Fiche. Darauf wurde der in Zürich tätige Kaufmann, der pharmazeutische Produkte vertrieb, als Kontaktperson der sowjetischen Botschaft geführt.

Bundesrichter Betschart, der die Fragen stellte, wollte zur Eröffnung wissen, ob Amann irgendwelchen Kontakt zur Botschaft der ehemaligen Sowjetunion gehabt habe. Hermann J. Amann verneinte: «Niemals, weder telefonisch noch brieflich.»

Der Bundesrichter erwähnte, Amann habe ein Haarentfernungsgerät aus Taiwan eingeführt, wobei er für den Transport die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot benutzt habe. Ob er in diesem Zusammenhang Kontakt zur Botschaft der UdSSR gehabt habe?

Darauf warf Anwalt Minelli korrigierend ein, Amann habe nur Sohleneinlagen mit Aeroflot aus Taiwan importiert, nicht aber das Enthaarungsgerät. Amann selbst antwortete: «Das Gerät stammt aus den USA. Ich habe den Beipackzettel vom Englischen ins Deutsche übersetzt und das Gerät hier verkauft.» Er führte ein Exemplar vor, das einem Kugelschreiber glich. An der Spitze befand sich eine Elektrode, mit der die Haarwurzel zerstört werden konnte.

Der einzige Kontakt zur Botschaft der UdSSR, der denkbar wäre, äusserte Amann weiter, «bestünde in der Möglichkeit, dass mir jemand von der Botschaft aus telefoniert und ein solches Gerät bestellt hat und bei dieser Gelegenheit das Telefon abgehört worden ist».

Anwalt Minelli führte als Beleg den Identifikationsbericht der Zürcher Kantonspolizei an. Demnach geriet Amann tatsächlich aufgrund eines Anrufs aus der sowjetischen Botschaft ins Visier des Staatsschutzes. Im Gespräch war es um den Haarentferner des Modells Perma Tweez gegangen. Eine Mitarbeiterin oder auch ein Mitarbeiter hatte am 12. Oktober 1981 wohl auf die Nummer 01 57 62 15 angerufen und ein Exemplar bestellt. Amann: «Ich war schockiert, dass man, wenn man ein solches Gerät auf dem offiziellen Weg verkauft, als Kontaktperson zur russischen Botschaft bezeichnet wird.»

Über das Leben von Hermann J. Amann ist wenig bekannt. 1940 in Konstanz geboren, kam er mit neunzehn Jahren in die Schweiz, wo er als selbstständiger Kaufmann tätig war. 1972 liess sich Amann einbürgern und leistete Militärdienst. Die Akten zu seinem Fall lassen eine argwöhnische, leicht aufbrausende Persönlichkeit vermuten. «Ich habe in die Gerichtsbarkeit wenig Vertrauen», schreibt er seinem Anwalt einmal. «Diese Behauptung ist eine bodenlose Frechheit», heisst es ein andermal. Amann, der schon seit längerem verstorben ist, hat keine Nachkommen hinterlassen. Seine Exfrau wollte über ihren ehemaligen Lebenspartner keine Auskunft geben.

Seine Beweggründe für die Klage erklärte Amann vor Gericht mit der Deportation der JüdInnen, von der ihm seine Eltern während seiner Kindheit in Konstanz erzählt hatten: «Wenn jemand beschuldigt worden war, ein Jude zu sein, kam die Gestapo in den frühen Morgenstunden und hat die Leute abgeholt, die daraufhin verschwunden sind. Stellen Sie sich vor, was mir – in den Fichen als Spitzel für die Russen verzeichnet – passiert wäre, wenn es in diesem Land zu einer Krise gekommen wäre. Ich hätte noch so sehr betonen können, dass ich mit den Kommunisten nichts zu tun habe, man hätte mir nicht geglaubt. Das ist es, was mich so erschüttert.»

Bundesrichter Betschart wollte wissen, ob Amann wegen des Ficheneintrags im politischen Leben beeinträchtigt worden sei. Amann: «Ich bin nicht politisch tätig. Ich bin in keiner Partei und übe auch kein öffentliches Amt aus. Aber ich hatte nie mit Kommunisten etwas zu tun und halte auch nichts von deren Ideologie.» Ob er also eine Verletzung der Persönlichkeit darin erblicke, dass er in den Fichen als Kontaktperson der Botschaft der Sowjetunion verzeichnet wurde? «Ja, für mich ist das ehrenrührig. Ich hatte nie etwas mit den Kommunisten zu tun.»

Dass Amann nach dem Auffliegen des Fichenskandals überhaupt Auskunft verlangte, ob über ihn eine Fiche angelegt worden sei, hatte mit einer früheren Reise nach Dresden zu tun. Zu Ausbildungszwecken hatte er eine Woche in der damaligen DDR verbracht.

«Wiederherstellung der Ehre»

Amanns vordringliches Anliegen neben einer Genugtuung von 5000 Franken war die Vernichtung der Fiche, ohne dass davon irgendwelche Kopien erstellt würden, über die andere Ämter verfügen könnten. Bundesrichter Betschart fragte Amann, ob er denke, dass ihm ein Ficheneintrag heute denn noch schaden könne. «Ich denke schon. Ich habe auch heute noch keine Freude daran. Der Eintrag ist falsch und muss aus der Welt.» Es gehe ihm also um die Beseitigung des Ficheneintrags? «So ist es. Es geht um die Wiederherstellung meiner Ehre. Was in meiner Fiche steht, ist nicht richtig.»

Auch die Vertreterin der Eidgenossenschaft wurde vor Gericht befragt. Sie bestritt die Telefonabhörungen der sowjetischen Botschaft nicht. Christiane Aeschmann: «Jedes Mal, wenn telefoniert wurde, wurde in der Folge abgeklärt, wer die angerufene oder anrufende Person ist, und über sie eine Fiche erstellt.» Dies bedeute aber nicht, dass Amann als Spitzel betrachtet wurde: «Der Ausdruck Kontaktperson sagt nur, dass die betreffende Person Kontakt zur Botschaft der UdSSR hatte, nicht, dass er als Spion betrachtet wird. Wenn das so gewesen wäre, hätte man den Kläger weiter beobachtet und ihn in einer Mann-Befragung direkt konfrontiert.»

Zum Schluss der Verhandlung folgte eine längere Diskussion darüber, ob die Telefonabhörberichte bereits vernichtet worden seien oder noch auffindbar wären. Aeschmann, die Vertreterin der Eidgenossenschaft, gab zu bedenken, dass allein für die Durchforstung der noch vorhandenen Säcke mit den entsprechenden Akten fünf Personen mindestens ein Jahr bräuchten. Ein Vergleich zwischen den Parteien, der eine Korrektur des Ficheneintrags bewirkt hätte, kam nicht zustande.

Ein knappes Jahr später, am 14. September 1994, fand vor dem Bundesgericht die Hauptverhandlung statt. In seinem Plädoyer begründete Amanns Anwalt, weshalb die Überwachung seiner Meinung nach eine ausserordentlich schwere Persönlichkeitsverletzung darstelle. 1959 habe der Bundesrat einen Beschluss zum Polizeidienst der Bundesanwaltschaft gefasst. Die Bundespolizei habe dabei den Auftrag für einen Fahndungs- und Informationsdienst erhalten, zwecks Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit. Durch das Anlegen einer Fiche über den Kläger und deren Ablage in ein Dossier mit mutmasslichen Fällen von Spionage der Sowjetunion sei die implizite Behauptung aufgestellt worden, der Kläger habe die innere oder äussere Sicherheit des Landes bedroht.

Darüber hinaus, führte Minelli aus, sei zu bestreiten, dass der Beschluss überhaupt eine Rechtsgrundlage für die Überwachung geschaffen habe. Eine gesetzliche Grundlage für die Erstellung präventiver Staatsschutzakten fehle, vor allem aber habe der Bundesrat gar nicht über die Kompetenz verfügt, die Bundespolizei zu gründen. Wenn schon, wäre die Bundesversammlung dafür zuständig gewesen. Die Überwachungstätigkeit sei also ohne rechtliche Grundlage erfolgt.

Das Bundesgericht stieg nicht auf die Argumentation ein und wies die Klage ab. In seinem Urteil schrieb es, es sei nicht der Zweck des Persönlichkeitsrechts, jegliches Bearbeiten von Personendaten auszuschliessen. Würde der Schutz der Privatsphäre absolut gewährleistet, wäre jeder Eingriff widerrechtlich und jede Bearbeitung von Personendaten verunmöglicht. Der Vermerk «Kontaktperson zur russischen Botschaft» sage lediglich, dass der Kläger einen solchen Kontakt gehabt habe, aber noch nichts über seine Schuld oder Unschuld. Da kein widerrechtlicher Eingriff in die Privatsphäre stattgefunden habe, so das Bundesgericht, fehle bereits die Voraussetzung für die verlangte Genugtuung. Auch die Frage, ob überhaupt eine rechtliche Grundlage für die Überwachung bestanden habe, sei hiermit obsolet.

Vom Fichenskandal zu Big Data

Hermann J. Amann zog seine Beschwerde an den Gerichtshof für Menschenrechte weiter. Dessen grosse Kammer beschloss am 16. Februar 2000 einstimmig, dass Artikel 8 zur Achtung des Privatlebens einer Person verletzt worden sei (vgl. «Artikel 8 EMRK» im Anschluss an diesen Text). Die Überwachung von Telefongesprächen sei nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sei, ein legitimes Ziel verfolge und sich in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig erweise. Im Hinblick auf geheime Überwachungsmassnahmen müssten die relevanten Gesetze besonders genau umschrieben sein. Die Bestimmungen des Bundesrats aus dem Jahr 1958 seien aber zu allgemein gefasst. Auch die Aufbewahrung einer Karteikarte mit persönlichen Daten – beispielsweise dass Amann ein Geschäftsmann sei – bedeute einen Eingriff in das Privatleben und damit eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Das Urteil war historisch bedeutend, hatte das Bundesgericht doch im Nachgang zur Fichenaffäre in keinem Fall festgestellt, dass die Überwachung durch die Bundespolizei einer rechtlichen Grundlage ermangelt habe. Politisch aber war die Erinnerung an den Überwachungsskandal zu diesem Zeitpunkt bereits verblasst: Hatten sich 1990 noch 35 000 Personen zu einer Protestdemonstration auf dem Bundesplatz versammelt und Einsicht in ihre Fichen verlangt, so war 1998 die Volksinitiative «S. O. S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei», die eine strenge Regulierung des Staatsschutzes verlangte, von drei Vierteln der Bevölkerung an der Urne abgelehnt worden.

Rückblickend schreibt der Historiker Jakob Tanner in seiner «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert»: «Im Lichte der digitalen Revolution, die sich in den 1990er Jahren transnational durchsetzte, musste das papierene Fichen-Massiv als unzeitgemässe Monstrosität erscheinen. Der Fichenskandal ebnete das Terrain für Big Data.»

Mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz, das Anfang September in Kraft getreten ist, erhielt der Geheimdienst NDG zahlreiche neue Kompetenzen: Telefone dürfen überwacht, E-Mails mitgelesen und Trojaner in fremde Computer geschmuggelt werden. Gegen die Kabelaufklärung, die eine massenhafte Überwachung des Datenverkehrs ermöglicht, läuft eine Beschwerde: Der Geheimdienst als zuständige Behörde hat sie Ende Oktober dieses Jahres abgelehnt, das Gesetz verletze «offensichtlich keine durch die Verfassung und die EMRK garantierten Grundrechte».

Die Kläger rund um die Digitale Gesellschaft haben die Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen und sind willens, bis nach Strassburg zu prozessieren, weil das NDG nicht mit dem Recht auf Privatsphäre gemäss EMRK vereinbar sei.

Heute brauchen Sie übrigens keinen Herrn Amann mehr anzurufen, wenn Sie ein Haarentfernungsgerät wünschen. Sie können eines der 170 Geräte erstehen, die auf amazon.de angeboten werden. Mit Sicherheit werden Sie auch überwacht, wenn Sie bei der Bestellung nicht in der sowjetischen Botschaft sitzen.

Kornel Stadlers Illustrationen zeigen die jeweiligen ProtagonistInnen zur Zeit, in der ihr Beschwerdefall akut war. Dazu integriert Stadler Reminiszenzen rund um den Fall.

Recht auf Privatsphäre: Artikel 8 EMRK

Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hält fest: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.» Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechtes nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.» Die Privatsphäre wird auch von der Schweizer Bundesverfassung explizit geschützt.

Gemäss der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt das Abhören von Telefongesprächen einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar. Der Gerichtshof stellt deshalb hohe Anforderung an die Klarheit und Präzision der gesetzlichen Grundlagen. Das innerstaatliche Recht muss Kategorien von Personen festlegen, deren Telefone durch gerichtliche Anordnungen abgehört werden dürfen, und die Natur der Straftaten bestimmen, die zur Überwachung führen können oder eine zeitliche Begrenzung dieser Massnahmen vorsehen.

Das revidierte Bundesgesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) verlangt, dass die Metadaten der Kommunikation von den Providern während sechs Monaten gespeichert werden. Daraus ist von jeder Person ersichtlich, wann und wo sie wie und mit wem kommunizierte. Mit Verweis auf Artikel 8 der EMRK hat die Digitale Gesellschaft ein Verfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung angestrengt, das im Moment beim Bundesgericht liegt. Auch gegen das neue Nachrichtendienstgesetz wurde eine Beschwerde lanciert; diese befindet sich derzeit beim Bundesverwaltungsgericht. Bei negativen Urteilen der Schweizer Gerichte sieht die Digitale Gesellschaft einen Weiterzug bis nach Strassburg vor.

Zahlreiche Verfassungsgerichte in europäischen Ländern wie auch der Gerichtshof der EU in Luxemburg haben sich gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen: Diese sei «auf das absolut Notwendige» zu beschränken.

Kaspar Surber