Kommentar von Pascal Claude: Frühfranzösisch als Folklore

Nr. 19 –

Sollen Primarschulkinder nur noch in einer statt in zwei Fremdsprachen unterrichtet werden? Die Abstimmung im Kanton Zürich bietet Gelegenheit, über die Bücher zu gehen.

Am 21. Mai entscheiden die StimmbürgerInnen des Kantons Zürich, ob an der Primarschule in Zukunft nur noch eine von den beiden Fremdsprachen Englisch und Französisch unterrichtet wird. Erst vergangene Woche hat das Thurgauer Kantonsparlament entschieden, sich vom Französischunterricht auf der Primarstufe zu verabschieden.

Im Fall einer Annahme, so der Initiativtext zur Zürcher Vorlage, müsste der Regierungsrat entscheiden, welches die erste Fremdsprache wäre – und welche aus dem Unterrichtsprogramm gestrichen würde. Der Regierungsrat bekennt sich in der Abstimmungszeitung klar zu Französisch. Er setzt damit vorsorglich ein Zeichen in einer Debatte, die unter dem Titel «Fremdsprachenstreit» geführt wird und bei der es bisweilen nicht nur um überforderte Schulkinder, sondern auch um das Fundament der «Willensnation Schweiz» geht.

In Zürich lernen Primarschulkinder heute ab der zweiten Klasse Englisch und ab der fünften Klasse Französisch, jeweils in zwei Wochenlektionen. Beide Fremdsprachen werden auch an der Sekundarschule unterrichtet. Die Zürcher Regierung spricht dabei von einem «bewährten Sprachenkonzept», an dem es festzuhalten gelte. Dem widerspricht der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband. Er empfiehlt ein Ja zur Initiative und hält fest, die Kinder würden heute «weder die Lernziele im Französisch noch im Englisch erreichen».

Zwar fehlen für den Kanton Zürich verlässliche Zahlen, doch lassen sich die Resultate einer Fremdsprachenevaluation der Zentralschweizer Kantone als Nennwert für die restliche Deutschschweiz nehmen: Nicht einmal zehn Prozent der getesteten SchülerInnen erreichen nach dem achten Schuljahr in Französisch die Lernziele in den Teilbereichen Hören und Sprechen. Vom erklärten Ziel des Fremdsprachenunterrichts, sich in einfachen Alltagssituationen sprachlich zurechtzufinden, sind die allermeisten SchülerInnen weit entfernt. Trotz Frühfranzösisch.

Wer sich heute kritisch zu zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe äussert, gerät schnell einmal in den Sog jener von der SVP propagierten «Rückbesinnung auf das Wesentliche», mit der die Schule in Gotthelfs Zeiten zurückgeohrfeigt werden soll. Die Angst vor dieser Allianz verstellt jedoch den Blick auf die wesentliche Frage: Sollen wir aus Gründen des nationalen Zusammenhalts an einem Fremdsprachenmodell festhalten, das sich alles andere als bewährt hat?

«Mehr Qualität» verspricht die Zürcher Initiative den StimmbürgerInnen, sollten sie die Primarschule von der einen Fremdsprache befreien. Fremdsprachenkompetenz wird dabei an den Zeitpunkt des Erlernens gekoppelt. Die für die Deutschschweiz verfügbaren Studien zeigen hingegen, dass hier kaum ein Zusammenhang besteht. Ob sich jemand nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit einigermassen auf Französisch verständigen kann, hängt kaum davon ab, wann er oder sie mit Lernen begonnen hat – sondern welche Qualität der besuchte Unterricht aufwies und welche Schwerpunkte er dabei setzte.

In vielen Primarschulklassen macht das schriftliche Lernen von Vokabeln heute einen wesentlichen Teil des Französischunterrichts aus. Schaut der Accent in die richtige Richtung und hängt die Cedille unten am C? Französisch wird in der Primarschule benotet, und das geschieht am einfachsten über das Abfragen von einzelnen Wörtern, den sogenannten Voci-Tests. Bei zwei Wochenlektionen in Klassen mit 23 SchülerInnen bleibt da nur wenig Zeit für das, was eine Sprache ausmacht: ihren Klang, ihren Charme, ihren Witz, ihre Melodie.

Es ist den Schulkindern in der Schweiz zuzumuten, auf der Primarstufe in zwei Fremdsprachen unterrichtet zu werden, und das Erlernen einer zweiten Landessprache bleibt ein Wesensmerkmal der Schweiz. Für Folklore hingegen eignet sich der Fremdsprachenunterricht nicht, weder in Genf noch in Zürich. Die Zürcher Initiative bietet die Chance, über die Bücher zu gehen. Nicht für weniger, aber für einen anderen, altersgerechteren Fremdsprachenunterricht.