Russlands Zukunft: Die Furcht des Regimes
Seit Wochen demonstrieren in Moskau Tausende Menschen für faire Wahlen. Bereits ein Drittel der HauptstadtbewohnerInnen sympathisieren mit der Bewegung. Das harte Durchgreifen der Behörden zeigt, wie nervös der Kreml ist.
Zwei Männer liegen am Boden. Während mehrere Polizisten in Vollmontur sie festhalten, drischt ein weiterer hemmungslos auf ihre Beine ein, immer wieder saust der Schlagstock auf die wehrlosen Männer herunter. Die Szene ist in einem Video zu sehen, das am Samstag in Moskau aufgenommen wurde und sich in den sozialen Medien viral verbreitete. Es ist nur eines von vielen Zeugnissen davon, wie brutal die Polizei an diesem Tag agierte.
1500 Menschen waren Behördenangaben zufolge in der russischen Hauptstadt für faire Wahlen auf die Strasse gegangen, obwohl die Stadtregierung mit einem spontan angekündigten «Schaschlikfest» inklusive Gratisrockkonzert von den Protesten ablenken wollte. Wie viele es tatsächlich waren, lässt sich aufgrund des dezentralen Charakters der Kundgebung kaum sagen, AugenzeugInnen gehen jedoch von weit höheren Zahlen aus.
Aufgerufen zu den «Spaziergängen» hatte die Opposition. Nach den Protesten vom 27. Juli, bei denen laut der Bürgerrechtsplattform OWD-Info fast 1500 Personen festgenommen worden waren, wollte man es den Behörden diesmal nicht so einfach machen. Viele TeilnehmerInnen flanierten einfach durch die Strassen, trugen keine Transparente bei sich – was dazu führte, dass die Polizei wahllos Leute verhaftete, die sich in der Stadt aufhielten, insgesamt über 1000.
Zuckerbrot und Peitsche
Einen solchen Widerstand hat das Regime schon lange nicht mehr gesehen. Und im Gegensatz zu den lokalen Protesten der letzten Monate, bei denen es um konkrete, oft umweltpolitische Anliegen ging, ist dieser Widerstand sehr grundsätzlich – und deshalb für die Machthaber so gefährlich.
Vordergründig richtet er sich zwar gegen die Stadtregierung. Diese hat alle unabhängigen und oppositionellen KandidatInnen wegen angeblich fehlerhafter Unterschriften von der relativ unbedeutenden Kommunalwahl im September ausgeschlossen. Dahinter aber offenbart sich eine existenzielle Unzufriedenheit, die Teile der Hauptstadtbevölkerung erfasst hat. Auf Videos ist zu sehen, wie junge Leute «Russland wird frei sein» rufen, bevor sie in Polizeiwagen gestossen werden. Sowieso fällt auf, wie jung viele der Protestierenden sind. Es erzürnt sie, dass sie grundlegender Rechte beraubt werden. Dem Kreml wiederum falle es schwer, mit der jungen Generation eine gemeinsame Sprache zu finden, schreibt der Soziologe Denis Wolkow vom Meinungsforschungsinstitut Lewada.
Hintergrund dafür ist aber auch ein Widerspruch, der immer deutlicher zutage tritt: In den letzten Jahren hat Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin, der als Nachfolger von Präsident Putin gehandelt wird, zwar viel dafür getan, dass Moskau lebenswerter wird. Er liess Parks und Velowege anlegen, immer mehr Restaurants befriedigen das Konsumbedürfnis einer wachsenden Mittelschicht. Dafür blieben die politischen Rechte der BürgerInnen beschränkt.
Diese Politik von Zuckerbrot und Peitsche geht offenbar nicht mehr auf. Entsprechend nervös ist die Staatsmacht, die am Samstag nicht nur Spezialeinheiten, sondern auch die Nationalgarde aufbot. Und sie hat dafür gesorgt, dass den Protesten ihre AnführerInnen abhandenkamen. Der Antikorruptionsblogger und Oppositionsführer Alexei Nawalny verbüsst gerade mal wieder eine dreissigtägige Haftstrafe. Zusätzlich haben die Behörden gegen seine Stiftung Ermittlungen wegen angeblicher Geldwäscherei aufgenommen.
Ebenfalls hinter Gittern befinden sich die meisten unabhängigen KandidatInnen für die Kommunalwahl. Und mehreren der in der Vorwoche Verhafteten drohen Verfahren wegen der «Organisation von Massenunruhen», worauf bis zu fünfzehn Jahre Gefängnis stehen. Nawalnys Mitarbeiterin Ljubow Sobol, die auch für den Stadtrat kandidieren wollte und zum Gesicht der Proteste geworden ist, ist seit drei Wochen im Hungerstreik. Als sie am Samstag zum «Spazieren» aufbrechen wollte, wurde sie festgenommen.
Ein konterrevolutionärer Herbst
Bürgermeister Sobjanin befindet sich in einer beinahe ausweglosen Situation: Gibt er nach und lässt die Kandidaturen doch noch zu, zeigt er Schwäche und könnte vom Kreml fallen gelassen werden. Lässt er die nächsten Proteste – für kommenden Samstag sind erneut welche geplant – niederschlagen, bringt er weitere Teile der Bevölkerung gegen sich auf. Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums sympathisieren inzwischen über ein Drittel der MoskauerInnen mit den DemonstrantInnen. «Die brutalen Bilder der Prügelattacken im Zentrum der Hauptstadt, die nächtlichen Hausdurchsuchungen und Massenverhöre demonstrieren die Schwäche des Regimes, seine offensichtliche Unfähigkeit, weiterzumachen wie bisher. Gewiss schürt die angeworfene Repressionsmaschine Angst – doch vermag diese Angst nicht mehr, eine Atmosphäre von lähmendem Pessimismus zu erzeugen», fasst der Moskauer Historiker Ilja Budraitskis auf dem Kulturportal «Colta» die Situation zusammen.
Die letzten derart umfassenden Proteste erlebte Russland im Winter 2011/12. Damals ruhten die Hoffnungen vieler auf Kurzzeitpräsident Dmitri Medwedew, doch dann liess Putin die Verfassung ändern und sich vom Premier wieder zum Präsidenten machen. Auf dem Bolotnajaplatz gegenüber dem Kreml wurde die Hoffnung einer Generation in Festnahmen und Gerichtsprozessen erstickt.
Heute ist die Situation anders: In den letzten Jahren sind die Reallöhne empfindlich gesunken, auch Putins umstrittene Rentenreform von letztem Jahr hat viele verärgert. Nach den neusten offiziellen Zahlen leben vierzehn Prozent der RussInnen unter der Armutsgrenze, da helfen auch keine neuen Fussgängerzonen oder Ausgehmeilen in Moskau. Putins Beliebtheitswerte liegen derzeit mit sechzig Prozent so tief wie selten.
Wie es nun weitergeht, hängt nicht nur von der Reaktion der Macht, sondern auch von der Opposition ab, die zerstritten ist und sich bisher nicht auf eine wirkungsvolle Strategie einigen konnte. Das System Putin, welches das Leben in Russland seit zwanzig Jahren bestimmt, könnte 2024 an sein Ende kommen: Sollte der Präsident nicht erneut die Verfassung ändern, muss er dann abtreten. Der brutale Umgang mit den Protesten zeigt, dass man auch im Kreml schon an die Zeit danach denkt.
Historiker Budraitskis jedenfalls stellt sich auf einen «konterrevolutionären Herbst» ein, in dem die staatliche Repressionsmaschine an ihre Grenzen stösst: «Dann könnte ein Zyklus zu Ende gehen, der 2011 begann. Alle verlorenen Schlachten und betrogenen Erwartungen der letzten Jahre würden plötzlich Sinn ergeben.»