Impfstoffknappheit: Die Tollwut und der Markt

Nr. 46 –

Gewisse Impfstoffe werden knapp, und in einem Notfall stünde die Schweiz weit hinten in der Warteschlange. Abhilfe sollen Pflichtlager leisten, doch die stehen erst 2019 zur Verfügung. Ein Blick ins Impfstoffgeschäft.

Die Zeiten, in denen Impfstoffe selbstverständlich zur Verfügung standen, seien vorbei, warnte vor einer Woche der Thurgauer Kantonsapotheker Rainer Andenmatten im «St. Galler Tagblatt». Falls es so weitergehe, brauche es «vielleicht einen staatlichen Betrieb, der Impfstoffe und andere wichtige Arzneien herstellt. Oder einen Auftrag an die hiesige Industrie und Subventionen.»

Eigentlich sollte das Problem entschärft sein, denn der Bund hat vor geraumer Zeit beschlossen, dass für Impfstoffe Pflichtlager gehalten werden müssen. Seit dem 1. Juni ist die entsprechende Verordnung in Kraft. Es müsste also ausreichend Impfstoff bereitliegen. Was ist los?

Einige wenige dominieren

Um es vorwegzunehmen: Es geht nicht um den Grippeimpfstoff, der ist verfügbar, weil es noch mehrere Hersteller gibt.

Selbst für eine Grippepandemie sei man gerüstet, sagt Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). Das ist sehr wichtig, denn bei einer Pandemie geht es nicht nur um Fieber und Schnupfen: Wenn der Impfstoff fehlt, könnte ein Supervirus Millionen Menschen dahinraffen – so wie vor hundert Jahren, als die Spanische Grippe weltweit gegen fünfzig Millionen Menschen tötete.

Man habe sogenannte Reservationsverträge abgeschlossen, sagt Koch, der beim BAG die Abteilung Übertragbare Krankheiten leitet. Die Unternehmen halten in der Produktion Überkapazitäten bereit, damit im Pandemiefall sofort mehr Impfstoff hergestellt werden kann. Gratis tun sie das nicht. Wie viel der Bund dafür bezahlt, kann Koch nicht sagen. Die Verträge seien geheim.

Andere Impfstoffe seien hingegen zum Teil sehr knapp, sagt Koch. Zum Beispiel Impfstoffe gegen Tollwut, Keuchhusten oder Polio. Das hat verschiedene Gründe. Unter anderem ist der Bedarf an Impfstoff in den letzten Jahren markant gestiegen, weil immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländer Impfprogramme für Kinder aufgebaut haben.

Gleichzeitig hat aber auch ein Konzentrationsprozess stattgefunden. Weltweit gibt es nur noch wenige Konzerne, die Impfstoffe herstellen. Die meisten Schweizer Impfstoffe stammen von Glaxo-Smith-Kline (GSK) und Sanofi, gefolgt von Merck und Pfizer. Tollwutimpfstoff fehlt zum Beispiel sehr oft, weil nur Sanofi ein Präparat anbietet. Wenn Sanofi nicht liefern kann, gibts einfach nichts.

Früher hatte die Schweiz ihren eigenen Hersteller: das Serum- und Impfinstitut in Bern. Das wurde vor einigen Jahren in Berna Biotech umbenannt. Inzwischen hat Johnson & Johnson Berna geschluckt und produziert am Schweizer Standort keine kommerziellen Impfstoffe mehr.* Daniel Koch sagt, das BAG habe verschiedene Impfstofffirmen gefragt, ob sie in der Schweiz nicht wieder einen Produktionsstandort aufbauen wollten, aber immer abschlägige Antwort erhalten.

Koch ortet noch ein anderes Problem: Die meisten EU-Staaten haben staatliche Impfprogramme. Zum Teil herrscht sogar Impfzwang, wie seit diesem Jahr in Italien (vgl. «Impfasyl?» im Anschluss an diesen Text). Die Staaten beschaffen deshalb den Impfstoff zentral – machen Ausschreibungen und schliessen mit den Konzernen Verträge ab. Diese Verträge enthalten Konventionalstrafen, falls ein Produzent nicht liefert.

Wenn bei einem marktbeherrschenden Produzent ein konkreter Impfstoff knapp wird, erfüllt er natürlich erst die Verträge, weil er keine Busse bezahlen will. Die Schweiz kennt aber keinen zentralen Einkauf. Hier soll der freie Markt spielen, Kinder-, HausärztInnen und Spitäler kaufen selber ein. Koch: «Der freie Markt hilft in diesem Fall nicht jenen, die – wie die Schweiz – vollständig auf diesen angewiesen sind, sondern benachteiligt sie.»

Die Pflichtlager

Wenn ein Impfstoff nicht verfügbar ist, sollte man auf das Pflichtlager zurückgreifen können. Ein Pflichtlager funktioniert so, dass die Firmen, die in der Schweiz Impfstoff verkaufen, verpflichtet sind, eine bestimmte Menge vorrätig zu halten. Der Bund gibt die Menge sowie die Art des Impfstoffs vor. Die Lager werden rollend bewirtschaftet: Ältere Chargen gehen in den Verkauf, hinten wird mit neuen aufgefüllt. So verfallen keine Impfstoffe.

Die Genossenschaft Helvecura ist dafür zuständig, dass die Firmen die Lager aufbauen. Man habe erst begonnen und sei mit dem Aufbau noch nicht sehr weit, sagt Hans Peter Linder, der Geschäftsführer von Helvecura.

Bei Antibiotika und Schmerzmitteln wie Morphium oder Methadon hat man schon vor einigen Jahren begonnen, Pflichtlager einzurichten. Die existieren also schon. Weil die Kapazitäten für die Impfstoffproduktion so knapp seien, sagt Linder, werde es bis 2019 dauern, bis in diesem Bereich die Lager im gewünschten Umfang eingerichtet seien.

Wie sieht es GSK?

Fast die Hälfte der in der Schweiz aktuell verfügbaren Impfstoffe – ausser dem Grippeimpfstoff – stammt von Glaxo-Smith-Kline. Der britische Konzern beschäftigt weltweit 100 000 MitarbeiterInnen und macht einen Umsatz von 36 Milliarden Franken. Vor zwei Jahren hat er für 7 Milliarden Franken die Impfstoffsparte von Novartis übernommen. Seither gibt es keinen Schweizer Hersteller mehr.

Urs Kientsch, Pressesprecher von GSK Schweiz, ist von der Idee, die Schweiz müsse eine eigene Impfstoffproduktion aufbauen, nicht überzeugt. Das sei eine sehr langfristige, kostspielige Investition, sagt er. Es dauere zehn bis zwölf Jahre vom Investitionsentscheid bis zu dem Moment, wo eine Anlage voll produzieren könne.

GSK hat zum Beispiel vor neun Jahren beschlossen, an seinem Standort in Belgien eine neue Anlage zu bauen. Seit 2015 produziert der Konzern, allerdings noch im Testbetrieb, weil die Qualitätssicherung so anspruchsvoll ist. Im nächsten oder übernächsten Jahr werde er erst mit der kommerziellen Produktion beginnen, sagt Kientsch: «Der Bau dieser Anlage kostete mehrere Hundert Millionen Franken – dann hat man aber erst ein Antigen.»

Das Antigen ist die Substanz, die den Körper immun gegen eine Krankheit macht. Ein Impfstoff enthält oft mehrere unterschiedliche Antigene, um zum Beispiel gleichzeitig gegen Masern, Röteln und Mumps zu schützen.

GSK würde die Idee des Pflichtlagers unterstützen, sagt Kientsch. Man könne den Bestand aber erst bis Ende 2018 auffüllen, weil eben die weltweiten Produktionskapazitäten beschränkt seien: «Wir könnten natürlich den Drittweltländern weniger liefern. Das halten wir aber ethisch für eine schlechte Idee.» GSK verteile die verfügbaren Dosen gezielt auf die Länder. Dabei achte man darauf, ob eventuell ein alternativer Impfstoff vorhanden sei. In diesem Fall wird weniger geliefert, um in Länder, wo das nicht der Fall ist, mehr liefern zu können – mit dem Ziel, dass letztlich alle Länder ausreichend versorgt würden, sagt Kientsch. Er räumt aber auch ein, dass im Fall eines Engpasses natürlich die Staaten zuerst beliefert würden, mit denen sie Verträge hätten, um zu verhindern, dass sie eine Konventionalstrafe bezahlen müssten.

Der freie Markt ist also mitnichten frei. Ursprünglich ging man davon aus, dass – sobald die Patente für die Impfstoffe ausgelaufen sind – mehr Anbieter auf den Markt drängen werden. Doch das Gegenteil ist passiert. Es ist zu erwarten, dass sich der Konzentrationsprozess in den nächsten Jahren noch akzentuieren wird.

Es bräuchte eine staatliche Intervention, um aus dem Dilemma herauszukommen.

Daniel Koch vom BAG sagt, wenn man einen zentralen Einkauf institutionalisieren möchte, bräuchte es dafür einen politischen Entscheid und die nötigen gesetzlichen Grundlagen.

*Korrigendum vom 17. November 2017: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, das Schweizerische Serum- und Impfinstitut sei in staatlichem Besitz gewesen. Das ist nicht richtig, es war immer privatwirtschaftlich organisiert.

Impfasyl?

Die Weltgesundheitsorganisation stellt fest, dass die Impfskepsis weltweit zunimmt, weshalb öfter Kinder nicht geimpft würden. Italien hat als Gegenmassnahme im Sommer eine Impfpflicht eingeführt. Kinder, die nicht geimpft sind, dürfen den Kindergarten nicht besuchen. Zudem müssen Eltern, die sich den Impfungen verweigern, mit einer Busse von bis zu tausend Euro rechnen.

Das führte dazu, dass Eltern versuchten, mit einer Einschulung im Tessin statt in Italien die italienischen Strafmassnahmen zu unterlaufen. Konkret gingen bei der Schweizer Botschaft von Mailand vierzehn Asylanfragen ein. Am Ende hat dann aber, nach Auskunft des Staatssekretariats für Migration, niemand ein Asylgesuch gestellt, weil die Impfverweigerung nicht als Fluchtgrund anerkannt werde.