Durch den Monat mit Mex Matzl (Teil 1): Wollten Sie schon als Kind mit Schnee arbeiten?

Nr. 5 –

Schneephysikerin Mex Matzl erklärt, warum Schnee als Material heiss ist, wie vielfältig seine Strukturen sind, welche Zeichen im Gelände auf Lawinen hindeuten – und was man für die stundenlange Arbeit in der Kälte am besten anzieht.

Mex Matzl: «Ich erinnere mich an grosse Schneehaufen und dramatische Schneeballschlachten.»

WOZ: Mex Matzl, was fasziniert Sie an Schnee?
Mex Matzl: Physikalisch ist er spannend, weil er uns so kalt erscheint, aber eigentlich als Material sehr heiss ist: meist knapp unter null, also nah an seinem Schmelzpunkt. Er verändert sich sehr schnell, das macht ihn zu einem interessanten Arbeitsmaterial.

Sind Sie in einer Gegend mit viel Schnee aufgewachsen?
In Oberbayern, zwischen München und Rosenheim, also nicht in den Bergen. In meiner Kindheit gab es viel Schnee, ich erinnere mich an grosse Schneehaufen und dramatische Schneeballschlachten. Aber vielleicht stimmt meine Erinnerung gar nicht, wahrscheinlich waren das nur einzelne Winter.

Wollten Sie schon als Kind mit Schnee arbeiten?
Polarforscherin war schon einer meiner Traumberufe. Und am Ende meines Studiums habe ich mich gezielt bei Instituten beworben, die mit Schnee und Lawinen arbeiten, etwa am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos und am Polarinstitut in Tromsö. Das SLF hat geantwortet.

Sie haben dann Ihre Diplomarbeit in Davos geschrieben. Worum ging es da?
Um das Messen von Schneeeigenschaften. Schnee erscheint weiss, weil er das sichtbare Licht fast vollständig reflektiert. Man wusste aber, im nahen Infrarotbereich sind die Kontraste stärker – allerdings war nicht klar, was man da eigentlich sieht.

Man sah Strukturen und wusste nicht, was sie bedeuten?
Genau. Das Ziel war, das herauszufinden und eine Methode zu entwickeln, wie man Infrarot für Feldmessungen einsetzen kann. Dafür haben wir einen Filter in eine Kamera gebaut, der das sichtbare Licht weggefiltert hat. Wir haben Schneeprofile gegraben, also Querschnitte durch die Schneedecke, und fotografiert.

Kamen Sie dabei den geheimnisvollen Strukturen auf die Spur?
Ja. Die Reflektivität von Schnee im nahen Infrarot hängt von der spezifischen Oberfläche ab, das ist das Verhältnis zwischen der Oberfläche eines Körnchens und dem Volumen. Neuschneesterne haben eine riesige Oberfläche, aber ein ganz geringes Volumen, bei älterem oder zusammengepapptem Schnee ist die Oberfläche viel kleiner. Im Schnee finden verschiedene Umwandlungsprozesse statt. Das hängt zum Beispiel von den Temperaturunterschieden ab: Wenn es unter einer Schneedecke null Grad ist und darüber minus zwanzig, finden Wärmeflüsse innerhalb der Schneedecke statt, und der Schnee verändert sich anders, als wenn oben und unten die gleiche Temperatur herrscht. Vereinfacht gesagt: Ohne Temperaturunterschied bilden sich eher runde Formen, bei einem starken Unterschied bilden sich Kristalle, die aussehen wie kleine Becher. Die sind nicht gut miteinander verbunden, vor ihnen wird im Lawinenbulletin häufig als «schwache Altschneeschichten» gewarnt.

In Davos kann es ganz schön kalt werden. Haben Sie die ganze Zeit draussen gearbeitet?
Am Anfang, für die Messungen, sehr oft. Und erst noch an Nordhängen, weil wir kein direktes Licht haben wollten. Später dann mehr am Computer oder im Labor. Meine Diplomarbeit entwickelte sich zur Doktorarbeit weiter.

Was zieht man an, wenn man stundenlang bei Minustemperaturen misst und fotografiert?
Im Kältelabor ist es minus 25 Grad kalt, da trägt man einen dicken Daunenanzug, Typ Michelin-Männchen, und Moonboots. Ein Problem sind immer die Handschuhe, vor allem wenn man empfindliche Geräte oder Touchscreens bedienen muss. Bei der Feldarbeit, wo wir meist zuerst eine Stunde aufsteigen und dann das Profil schaufeln mussten, am besten Wollunterwäsche und diverse Schichten darüber. Irgendwann habe ich beheizbare Einlegesohlen für Skischuhe entdeckt – super! Und ein Kollege hat sich eine Art Nasenwärmer gebastelt.

Hatte Ihre Doktorarbeit eine praktische Bedeutung für die Lawinensicherheit?
Sie war die Grundlage für diverse Messmethoden, die entwickelt wurden. Ich war nach der Dissertation drei Jahre weg vom SLF, und es hat mich gefreut zu sehen, wie viele neue Methoden auf diesen Messungen aufbauen.

Ist das Graben von Schneeprofilen die sicherste Methode, um im Gelände die Lawinengefahr zu bestimmen?
Vor Ort ist es wichtig, die Zeichen zu lesen: Gibt es Triebschnee? Gibt es Warnsignale, etwa Risse, Geräusche oder Lawinenabgänge? Wie steil ist der Hang? Ein Punkt von vielen ist dabei der Aufbau der Schneedecke, und über diesen gibt ein Schneeprofil zusammen mit einem Stabilitätstest sicher den besten Überblick.

Haben Sie mal eine brenzlige Situation erlebt?
Nicht beim Arbeiten, aber einmal auf einer Skitour bei schlechtem Wetter. Da sah ich plötzlich, wie sich der Schnee um mich herum bewegte. Es war nur ein ganz kleines Schneebrett, nur die oberste Schicht, aber angenehm war es nicht zu merken: Ich fahre nicht mehr, aber um mich herum fährt es.

Mex Margarete Matzl (41) ist Geografin, hat 2006 am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos über Schneephysik dissertiert und dort bis 2016 gearbeitet. Sie lebt in Soglio im Bergell und ist Mitpächterin einer Ziegenalp. Von einer Reise heimgekehrt, brauchte sie letzte Woche drei Stunden, um in Maloja ihr Auto aus dem Schnee zu graben.