Berner Fachhochschule: Trauermarsch fürs kritische Denken

Nr. 13 –

Fragwürdige Module, autoritäre Führung: Studierende kritisieren das Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. «Entpolitisierung ist der Preis der Professionalisierung», meint der Departementsleiter – und droht auch mal mit der Polizei.

Demonstration gegen Sparmassnahmen im Berner Sozialwesen vom November 2017. Der Sozialabbau betrifft auch die StudentInnen der BFH Soziale Arbeit. Foto: Franziska Rothenbühler, «Der Bund»

Sie waren idealistisch und neugierig, als sie ihr Studium in Sozialer Arbeit an der Berner Fachhochschule (BFH) aufnahmen. Antonia Gattiker* faszinierten die vielen Aspekte der sozialen Arbeit: «Sie vereint so viele Themen – von Wirtschaft über Politik, Migration bis zu Gesundheit und Suchtfragen.» Ihre Kollegin Jana Senn* war gespannt auf die Arbeit mit «Leuten, die nicht der Norm entsprechend leben wollen oder können».

Heute sind Senn und Gattiker desillusioniert. «Am Departement Soziale Arbeit herrscht ein repressives Klima», sagt Senn. Die Studierenden, mit denen die WOZ gesprochen hat, wirken misstrauisch und eingeschüchtert. Alle haben Angst, erkannt zu werden – sogar jene, die das Studium abgeschlossen oder abgebrochen haben.

Die Kritik ist vielschichtig. Sie entzündet sich an Strukturen, einzelnen Fächern – an dieser Schule «Module» genannt –, und manchmal ist für Aussenstehende schwer zu unterscheiden: Hat hier jemand beim Planen einfach zu wenig nachgedacht? Oder ist es Schikane?

Persönliches auf der Onlineplattform

Von vielen StudentInnen heftig kritisiert wird das 2013 eingeführte Pflichtmodul «Selbst- und Sozialkompetenz» (Sesok). «Natürlich ist es für angehende Sozialarbeiterinnen wichtig, die eigenen Kompetenzen zu reflektieren», sagt Jana Senn. Das Modul führe aber dazu, dass man sich überlege: Wie stelle ich es an, dass ich nichts Persönliches preisgeben muss? Antonia Gattiker erzählt von Gruppencoachings zu acht: «Wir sollten auf einem Onlineportfolio über persönliche Lernziele und Entwicklungen ein Journal führen. Alle Gruppenmitglieder, der Coach und die Modulverantwortliche hatten Zugriff auf das Material. Ich sagte, diese Dinge seien persönlich, die wolle ich nicht auf einer Onlineplattform teilen.» Auf ihre wiederholte Kritik habe die Modulverantwortliche Zweifel geäussert, ob sich Gattiker überhaupt für den Studiengang Soziale Arbeit eigne, wenn sie das Modul derart ablehne. Die BFH schreibt, sie gewährleiste, «dass dieses E-Portfolio in einem datengeschützten Rahmen erstellt wird, der nur für die Verantwortlichen zugänglich ist». Umfragen belegten, dass «die grosse Mehrheit der Studierenden» sehr zufrieden sei mit dem Modul.

Die Modulverantwortliche von «Selbst- und Sozialkompetenz» begleitet ihr Modul mit einer Doktorarbeit an der Universität St. Gallen. Laut BFH Soziale Arbeit «flossen die Rückmeldungen der Studierenden in die Weiterentwicklung des Moduls ein» – damit verändern sich allerdings auch laufend die Anforderungen an die StudentInnen.

Die Verschärfung der Ausschlusspraxis ist ein weiterer Kritikpunkt. Heute gilt: Wer ein Modul zweimal oder zwei Module einmal nicht bestanden hat, fliegt von der Hochschule. Laut Reglement der gesamten BFH darf eine Prüfung höchstens zweimal wiederholt werden, an der BFH Soziale Arbeit aber nur einmal. Letzten Sommer scheiterte eine Studentin zweimal an Sesok – und wurde exmatrikuliert. «An ihr wurde ein Exempel statuiert», sagt Jana Senn. «Vielen war nicht bewusst, dass man wegen Sesok rausfallen kann. Jetzt ist allen klar: Dieses Modul ist heftig.» Eine kleine Gruppe setzte sich aus Protest vor das Zimmer, in dem die letzte Anhörung der Studentin stattfand. «Wir warteten ruhig, bis das Gespräch vorbei war», betont Senn. «Der Departementsleiter, Johannes Schleicher, tauchte auf, begann uns zu fotografieren, und drohte mit der Polizei.»

Stimmt das? «Meine harte Reaktion tat mir selber leid», schreibt Schleicher, der mit der WOZ nur schriftlich kommunizieren will. Die Situation sei «brenzlig» gewesen: «Ich hatte Mitarbeiter zu schützen, die sichtlich eingeschüchtert waren, eine Studentin, die Anspruch auf eine angemessene Gesprächssituation hatte, und ich sah mich mir unbekannten Personen gegenüber, die mir nicht einmal ihren Namen sagen wollten. Die Polizei zu rufen, wäre ein schwerer Entscheid gewesen, und ich habe mich bei den Leuten dann auch bedankt, dass sie wieder abgezogen sind. Die Fotos habe ich erleichtert wieder gelöscht.»

Schleicher gilt unter den Studierenden als autoritär. «Es soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, das sei ein einfaches Studium», sagt die Studentin Emma Kälin*. Dazu passt, was Schleicher letzte Woche zur «Bärner Studizytig» sagte: «Die Dropout-Quote im Laufe des Studiums ist notorisch tief. Das kann dem Ansehen des Abschlusses schaden.»

Ausserdem versuche sich Schleicher, «auf allen Ebenen von einem linken Bild von sozialer Arbeit abzugrenzen, vom ‹Gschpürschmi›-Image», sagt Kälin. Solche Beobachtungen teilen viele StudentInnen. «Um das linke Image von sozialer Arbeit zu bekämpfen, geht man möglichst technokratisch an die Sache heran», kommentiert Roman Hauri*, der das Studium inzwischen abgebrochen hat. «Im Unterricht ging es um den Umgang mit sozialen Problemen, aber kaum um ihre Ursachen.» Und Antonia Gattiker erzählt: «Einmal war eine Mitstudentin barfuss. Schleicher herrschte sie an: ‹Ziehen Sie sofort Schuhe an!›»

«Juvenile Ideologisierung»

Der 64-jährige Schleicher hat selbst in Bern Sozialarbeit studiert. Seit 2005 leitet er die BFH Soziale Arbeit. Dass er sich einst als radikaler Linker verstand, verheimlicht er nicht. Auf einen Auftritt der deutschen Professorin Mechthild Seithe 2015, die die heutige Sozialarbeit von links kritisiert, reagierte er mit Gedanken über seine eigene Biografie: «Mechthild Seithe, bald 70 – sie sprach wie wir damals: ‹Die Wirtschaft› ist schuld. (…) Ich erinnere mich gut der Anziehungskraft einfach gestrickter, in sich geschlossener Weltbilder», schrieb er in der Zeitschrift «SozialAktuell». Früher war ich links, heute bin ich klüger: So stellt sich Schleicher immer wieder dar. «Entpört euch» nannte er eine Kolumne, in der er zum Fazit kam: «Entpolitisierung ist der Preis der Professionalisierung.» Er freue sich «auf die Zeit, da juvenile Ideologisierung reifer Gelassenheit weicht». Und vergangene Woche äusserte sich Schleicher in der «Bärner Studizytig»: «Soziale Arbeit erfüllt auch eine Ordnungsfunktion.»

Er vertrete «die Erfahrung, dass ein Experte an Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn er sich mit politischen Stellungnahmen zurücknehmen und Argumente fachlich begründen kann», schreibt er der WOZ. Und weiter: Die BFH sei ein Arbeits- und Studienort, an dem auch zahlreiche zahlende Kunden verkehrten. Ihnen sei ein professioneller Rahmen zu bieten.

Steht ein politischer Anspruch in der sozialen Arbeit im Widerspruch zur Professionalität? Die Debatten über diese Frage sind heftig, nicht nur in Bern. Soziale Arbeit hat mit ausgegrenzten Menschen zu tun – lassen sie sich ermächtigen, ohne dass politische Fragen gestellt werden? Und braucht die Sozialarbeitsausbildung nicht auch einen sozialwissenschaftlichen Hintergrund, um die sozialen, psychischen und ökonomischen Probleme zu verstehen, mit denen ihre «Klientel» konfrontiert ist?

Auch solche Fragen stehen hinter den Konflikten an der BFH, und viele Proteste der letzten Monate hatten mit ihnen zu tun. Im Frühling 2017 tauchten in den Gängen Post-it-Zettel auf, auf denen Fragen standen: «Was ist das für ein System, aus dem man rausfallen kann?» – «Ist das schon Bildung oder kann das weg?» – «Wer definiert die Ressourcen bei der Ressourcenorientierung?» – «Studieren wir alle alleine?» – «Wie wird Sozialkompetenz gemessen?» Als im Sommer der als kritisch bekannte Professor Martin Graf in Frühpension ging, organisierten Studierende einen Trauermarsch und beklagten mit einer symbolischen Todesanzeige das Aussterben des kritischen Denkens an der BFH Soziale Arbeit.

Plattform für Schnegg

Bis zu diesem Zeitpunkt reagierte die Leitung des Departements praktisch nicht auf die Proteste. «Das Abwartspersonal wurde angewiesen, die Post-it-Zettel so schnell wie möglich zu entfernen», sagt Emma Kälin. Es gebe an der BFH Soziale Arbeit «zahlreiche Mitteilungs- und Mitsprachemöglichkeiten» und «klar definierte Orte für die Meinungsäusserung» wie ein graues Brett, schreibt Johannes Schleicher. «Ausserhalb dieser Flächen werden routinemässig alle Drucksachen entfernt.»

Dann kam der Herbst. Die StudentInnen meldeten sich wieder: Mit einem «Schwarzbuch», in dem sie die Kritik an ihrer Schule vielstimmig zusammenfassten. Schleicher verlangte von der Studierendenorganisation (SO) eine Stellungnahme dazu. Da die SO nichts mit dem Schwarzbuch zu tun hatte, weigerte sie sich. Danach, so lauten Gerüchte, habe die Studiengangsleitung der SO die Arbeit erschwert und zur Strafe einen Gesprächstermin abgesagt. Die BFH dementiert das. Schon 2015 hatte Schleicher nach einer Auseinandersetzung mit der SO per E-Mail gedroht, die Zusammenarbeit auszusetzen. Von der SO dürfe «ein regelkonformeres und schlichtweg anständigeres Verhalten erwartet werden», schrieb er damals.

Warum reagiert Schleicher nicht auf anonyme Kritik, etwa auf das Schwarzbuch oder die Zettelaktion? «Ich glaube», schrieb er der WOZ, «wir verstehen diese schweigende Zurückweisung als aggressiven Akt einer Minderheit. Wir können schlecht damit umgehen, dass unser Gegenüber uns unterstellt, es müsse wegen bestimmter Meinungen Repression befürchten.»

Im Herbst 2017 beschloss das Berner Kantonsparlament eine weitere Sparrunde, die auch den Sozialbereich empfindlich trifft – und direkte Auswirkungen auf die StudentInnen der BFH Soziale Arbeit hat: Der Kanton finanziert die Ausbildungspraktika in der offenen Kinder- und Jugendarbeit ab 2019 nicht mehr mit. Viele Studierende beteiligten sich an den Demos. «Kritik am Sozialabbau lässt sich aus Sicht der sozialen Arbeit fachlich begründen», sagt Emma Kälin. «Ich hätte zumindest einen kritischen Artikel in einem Fachmagazin erwartet. Stattdessen gab die BFH Soziale Arbeit in ihrem Heft ‹Impuls› dem SVP-Sozialabbauer Pierre Alain Schnegg eine Plattform.» Der umstrittene Regierungsrat bekam ein ausführliches Interview, in dem er sein Weltbild darlegen konnte: «Man kann schon auf sich aufpassen. Man kann sich bewegen, auf die Ernährung und den Lebensstil achten. Das liegt in der eigenen Verantwortung, egal ob jemand reich oder arm ist.»

Seit kurzem darf sich auch das Forum Kritische Soziale Arbeit (Kriso) an der BFH nicht mehr während des Unterrichts vorstellen, wie es bisher üblich war. Die lose organisierte Bewegung, die Ableger in Zürich, Bern, Basel und St. Gallen hat, lässt sich davon jedoch nicht einschüchtern. «Die BFH ist super», sagt eine Berner Kriso-Aktivistin. «Sie produziert jedes Jahr viele unzufriedene Studierende, die ein kritisches Bewusstsein entwickeln. Die Kriso Bern hat jedenfalls keine Nachwuchsprobleme.» Auch sie will anonym bleiben – kein Wunder.

Schwarzbuch: schwarzbuch.blackblogs.org .

* Namen geändert.