Pop: Alles falsch, aber alles richtig
Es ist der grosse Traum der Mittelschichtsjugend: In der Softshelljacke auf Weltreise und auf dem eigenen Blog die innere Erfahrung dokumentieren. «Wo willst du hingehen / Wenn du überall schon warst? / Wo gehst du hin / Wenn dich überall was stört?» So fragen Die Nerven auf ihrem neuen Album «Fake», und dazu klingen die Gitarren für einmal ganz schwelgerisch. Aber daheimbleiben hilft auch nicht: «Finde niemals zu dir selbst», heisst es im Refrain von «Niemals», und das Unbehagen ist perfekt.
Ein Unbehagen, das bereits auf den ersten drei Alben anklang. Schon damals hatte das Trio aus Stuttgart nur Gitarre, Schlagzeug und Bass als Aggressionsventile. Auf «Fake» entwickeln sie damit immer noch dieselbe Dringlichkeit, trotzdem ist ihre Wut hier komplizierter: In «Roter Sand» und «Alles falsch» lässt der Bass den Takt immer wieder ins Leere laufen. Das erinnert zeitweise an die disharmonischen Gitarren der New Yorker No Wave aus den Achtzigern. In «Frei», «Aufgeflogen» und «Der Einzige» baut die Band die bekannten Schallwände, um dagegen anzuschreien. «Der Einzige» kratzt noch die Kurve zur Eingängigkeit, zufrieden klingt die bei den Nerven aber nie.
Nicht zu fassen, wie unterschiedlich der Rockmusik-Grundbaukasten bei den Nerven klingen kann. Und in ihren Texten haben sie immer noch Zeilen, die man an den nächsten Neubau sprayen will. Während sich andere Bands in der Selbstbezogenheit wohlfühlen, wissen Die Nerven nur eines: «Wir machen alles falsch / Wir machen alles richtig.» Für Julian Knoth, Max Rieger und Kevin Kuhn bleibt es konstant ungemütlich – gerade auch im Wohlstand: «Skandinavisches Design und Depressionen / Musik, Mode, Meinung für Millionen / Das Teil wurde mir auf Amazon empfohlen.»
Die Entfremdung ist unüberwindbar, und gegen Unruhe hilft nur ständige musikalische Bewegung. Ungebrochen spielen Die Nerven auf «Fake» mit politischer Wut im Bauch: Zwar bieten sie keine Orientierung für komplizierte Zeiten – aber zumindest den Soundtrack dazu.
Die Nerven: Fake. Glitterhouse Records. 2018